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Kurz vergessen, dass es weh tut

Rebekka Dahinden 17.11.2025

Sie stellen keine Diagnosen. Sie hören zu, machen Quatsch und bleiben, bis die Kinder wieder lachen können – die Traumdoktoren der Stiftung Theodora.

Ein leises Weinen dringt durch den Flur im Kinderspital Zentralschweiz in Luzern. «Hörst du das?», fragt Dr. StrubuLà und bleibt stehen. «Das kommt von da vorn.» Zusammen mit Dr. Lilu folgt sie dem Wimmern. Die beiden Traumdoktorinnen sind aufmerksam. Nicht nur für Geräusche, sondern für all das, was Kinder in schwierigen Momenten brauchen können.
So bedacht und unaufdringlich wie in diesem Moment beginnen viele Begegnungen der Traumdoktorinnen.

Dr. StrubuLà und Dr. Lilu von der Stiftung Theodora sind jede Woche im Kinderspital Luzern unterwegs – mit rotem Punkt auf der Nase, buntem Mantel, Spiegelei und Schmetterling im hochgesteckten Haar, und einem grossen Ziel: Kindern in schwierigen Momenten ein Lächeln zu schenken. Immer, wenn sie ihre Schicht antreten, erhalten sie vom Pflegepersonal die relevanten Informationen zu den jungen Patientinnen und Patienten. Gemeinsam gehen sie dann die Liste durch, besprechen den Tagesplan: Wer besucht welches Kind? Was gab es beim letzten Mal zu beachten?

 

«Hättisch gärn es Wachtelei?»
«Lass uns mit den beiden Jungs anfangen», sagt Dr. Lilu. Meistens sind die Traumdoktorinnen allein unterwegs, damit jedes Kind im Spital besucht werden kann. Heute jedoch lässt der Zeitplan einen gemeinsamen Besuch zu. Die beiden steuern auf ein Zimmer zu, das sich zwei Jungs – sieben- und vierzehnjährig – teilen.
«Dürfen wir reinkommen?» Der Siebenjährige liegt mit einem Gipsarm im Bett, die Mutter sitzt daneben. Ein leises Spiel beginnt – zwischen Anklopfen und «Herein» wünschen –, bis die beiden Traumdoktorinnen den richtigen Eingang finden und kurzerhand durch die Balkontür ins Zimmer treten.
Der Jüngere ist fasziniert von Wachteln und Mähdreschern, der andere von Holz, Werkzeug und selbstgebauten Möbeln. Es kommt zu einem Gespräch, wie es wohl nur Profi-Künstlerinnen  ins Rollen bringen können:
«Wachteln? Echt jetzt? Wie viele Eier legen die denn? Und wie viele braucht man für ein Rührei?», fragt Dr. StrubuLà. «Habt ihr nicht auch Strausse?», hakt Dr. Lilu nach. «Dann könnte man ein Riesenei daruntermischen!»

 

«Meist arbeite ich mit Slapstick, das kommt fast immer gut an.»

 

Der Junge erzählt, wie er die Wachteleier im Hofladen verkauft – und schon ist die Geschäftsidee geboren: «Dein Nachbar könnte dir einen Spezialtisch zimmern, mit Mulden für Wachteleier. Und du startest hier im Spital dein Business!», mein Dr. Lilu.
Der Jugendliche schmunzelt, der Siebenjährige lacht. Noch hält er sein Tablet in der Hand – ein Landwirtschaftsspiel flimmert über den Bildschirm. Aber die Traumdoktorinnen lassen nicht locker. «Du fragst einfach jeden, der ins Zimmer kommt: ‹Hättisch gärn es Wachtelei?› Dann machst du Striche auf einem Block und nimmst Bestellungen auf. Das wird ein Riesengeschäft!»
Langsam legt der Junge das Tablet beiseite. Jetzt ist er dabei. «Nein, das geht nicht», sagt er mit ernster Miene. «Die Wachteln machen gerade Legepause.»  
Dann, ein Blick zur Mutter, ein verschmitztes Grinsen: «Mami, weisst du noch, wie der Papi einen Streich gespielt hat? Als er ein Hühnerei zu den Wachteleiern gelegt hat?»
Lachen im Zimmer. Die Traumdoktorinnen tauschen einen Blick. «Vielleicht war es ja doch ein besonders grosses Wachtel-Ei?» … – «Oder, vielleicht hat der Papi eins gelegt?»

 

Mit dem arbeiten, was ist 
Es sind Besuche wie diese, die den Spitalaufenthalt für Kinder ein wenig leichter machen sollen. Sie sollen ablenken, die Zeit zwischen Essen und Untersuchungen verkürzen, unterhalten. Wenn Dr. StrubuLà ein Patientenzimmer betritt, arbeitet sie mit dem, was sie vorfindet: «Ich ‹scanne› das Zimmer gewissermassen – hier ein Stofftier, dort eine Figur. Ich halte Ausschau nach Dingen, für die das Kind brennt. Da setze ich an.» Wie etwa bei dem kleinen Jungen mit dem Landwirtschaftsspiel auf dem Tablet. «Meist arbeite ich mit Slapstick, das kommt fast immer gut an. Und schon kleine Kinder verstehen es.»
Schnelles Erfassen und spontanes Reagieren – das ist gefragt, wenn Dr. StrubuLà unterwegs ist. Sie schaut: Wie geht es den Kindern und ihren Eltern? In welcher Verfassung sind sie? Welche Sprache, welche Ausdrucksweise passt zu ihnen? Dass man sich nicht vorbereiten kann, sondern sich spontan auf die Situation einlassen muss, mag Dr. StrubuLà.

 

Geschenke sind immer okay
Wie unterschiedlich die Bedürfnisse der Kinder von Tag zu Tag sein können, erlebt die Traumdoktorin beim nächsten Zimmer. Ein Teenager-Mädchen, das gerade von der Physiotherapie zurückgekommen und müde ist, möchte heute keinen Besuch. «Ist gut, ich komme ein andermal wieder. Aber ich lege dir ein Geschenk vor die Tür, okay?», sagt Dr. StrubuLà.
Im Gang knüpft sie aus langen Ballon-Schläuchen einen Blumenstrauss. Ob ein kleiner Ballon, eine Spielzeugfigur, eine Medaille oder eine Karte – über ein solches Geschenk freue sich fast jedes Kind, sagt sie.
«Bei uns Traumdoktoren dürfen die Kinder immer Nein sagen und uns wegschicken. Das geht bei Ärzten oder Pflegefachpersonen nicht.» Doch manchmal, erzählt sie, müsse sie auch herausfinden, ob ein Nein wirklich ernst gemeint, oder Teil eines Spiels ist. «Gerade bei Jugendlichen ist das eine Gratwanderung.»

Die Traumdoktoren  sind für alle da, für die ganz Kleinen genauso wie für die Grossen. Auf der Neointensivstation arbeiten sie oft mit leisen Klängen, beruhigender Musik. Dafür hat Dr. StrubuLà immer eine Ukulele dabei. Bei den Klein- und Schulkindern dominieren Zaubertrick, Scherze und Slapstick. Und bei Teenagern? Da machen sie oft Spiele – und manchmal geht es auch einfach nur ums Dasein und Plaudern.
Auch für die Eltern, die oft über viele Stunden oder sogar Tage am Spitalbett  ihres Kindes sitzen, sind die Traumdoktoren eine wertvolle Begleitung.
Es ist schwierig, erzählt Dr. StrubuLà, einzuschätzen, was ihr Besuch auslöst. «Doch ich hörte schon einige Male von Eltern, die berichten, dass unsere Karten, Geschenke noch lange aufbewahrt wurden und die Kinder von uns erzählten.» Dass sie auch vom Pflegepersonal geschätzt werden, zeigt sich von Anfang an: Ein herzliches Hallo auf dem Gang, ein Scherz im Vorbeigehen oder ein kurzer Austausch vor dem Lift.

 

«Bei uns Traumdoktoren dürfen die Kinder immer Nein sagen und uns wegschicken. Das geht bei Ärzten oder Pflegefachpersonen nicht.»

 

Zwei Traumdoktorinnen und ein Waldross
Dr. StrubuLà und Dr. Lilu treffen sich kurz auf dem Flur. Immer wieder gibt es Planänderungen – eine Therapie hat sich verschoben, ein Kind ist zu müde, bei einem anderen ist gerade Besuch da. Flexibilität gehört zum Alltag der Künstlerinnen und Künstler, Improvisation sowieso.
Als Traumdoktorin kommt man den Kindern, ihren Familien und Schicksalen sehr nahe. Wie wahren sich da die Traumdoktoren eine gesunde Distanz? «Wir haben Supervision, das hilft. Aber auch der Austausch im Team der Traumdoktoren hier im Kinderspital Luzern ist sehr wichtig.» Am schwersten seien für sie die Todesfälle, sagt Dr. StubuLà. «Gerade in solchen Situationen ist es gut, dass wir ein eigenes Trauerritual entwickelt haben. Und dass ich mit vertrauten Personen aus meinem engen Umfeld offen darüber sprechen kann.»
Dann klingelt das Telefon. Ihr Kollege Dr. Wolle  hat vor seinem Urlaub einem Mädchen ein Pferd versprochen. Das will Dr. StrubuLà nun nachholen. Sie kramt in ihrer Tasche. Sie findet zwar kein Pferd – aber ein Reh. «Ein Walross!», ruft die Traumdoktorin und lacht. Manchmal ist Fantasie eben die beste Medizin. Besonders hier.

Im Kurzinterview erzählt Dr. StrubuLà ausserdem, wie sie zu ihrer Künstlerfigur gefunden und wie sich diese im Verlaufe der Zeit verändert hat.

Mehr über die Tätigkeit der Stiftung Theodora erfahren Sie hier.

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