Wie wir uns in der Zeit bewegen
Mariann Bühler 19.01.2025

Wie stellen Sie sich Zeit vor? Was hat Ihre Zeit für eine Konsistenz? Wie würde sie aussehen, wenn man sie sehen könnte?
Das Basler Quartier Gundeldingen, wo ich seit mehr als zehn Jahren wohne, ist in einem Schachbrettmuster aus langen Strassen und kurzen Querstrassen angelegt. Ich gehe meist auf rechtwinkligen Wegen zur Tramhaltestelle, zum Bahnhof.
Vor einigen Monaten hat mir eine Freundin, die hier aufgewachsen ist, eine Abkürzung gezeigt: Sie führt diagonal durch einen Strassenblock und erspart mir eine Minute Weg. Auf dieser Abkürzung erlebe ich oft mehr als auf dem längeren Weg. Tagsüber sitzt im ersten Durchgang ein Mann auf seinem Rollator und grüsst alle, die vorbeigehen. Im ersten Innenhof liegt ein Spielplatz, wo ich immer wieder laute und wilde Kinder und mehr oder minder müde Eltern antreffe. Oder ich sehe durch die Scheiben des Pfarreizentrums Senior:innen bei Kaffee und Kuchen. Durch einen schmalen Durchgang komme ich in den nächsten Hinterhof, der zur Heiliggeistkirche gehört. Im Sommer gibt es ein Blätterdach von einigen Platanen. Daneben liegt ein kleines Gärtchen mit einem Brunnen in der Mitte und einem rosenbewachsenen Baldachin. Hier küssen sich Paare aller Art – zumindest, solange es warm genug ist. An einem dunklen Winterabend war der Weg durch den Innenhof mit Kerzen gesäumt und ich habe mit diesem Anblick ein warmes Gefühl mitgenommen. Unter ein paar Säulenbögen hindurch komme ich zur Haltestelle – wo das Tram dank der gewonnenen Minute hoffentlich noch nicht abgefahren ist.
Vorstellung von Zeit
Wir versuchen, Zeit zu sparen und Zeit zu gewinnen. Alle vier Jahre gleicht ein Schalttag einen Fehler in unserem Zeitkonzept aus. Neben dem Schalttag gibt es auch Schaltsekunden. Für die meisten von uns unbekannt und unbemerkt, fordern sie auf der Welt einiges an technischem Aufwand.
Davon erzählte mir die Freundin, die mir die Abkürzung gezeigt hatte, und fügte hinzu: Wusstest du, dass sich Menschen Zeit alle anders vorstellen? Das wusste ich nicht.
Die Zeit verrinnt, heisst es – ist sie dünnflüssig wie Tee? Manchmal ist sie zäh –wie Honig, der in einem kühlen Raum stand? Oder Gletschereis, das für uns unsichtbar fliesst?
Wie bewegen Sie sich in der Zeit? Sind Sie umgeben davon oder zieht die Zeit an Ihnen vorbei? Ist sie formbar wie ein Stück Ton – oder müsste man sie wie Suppe löffeln? Und wenn die Zeit reif ist, ist sie weich und süss? Wie hat sich Zeit angefühlt, als es noch keine Stunden, Minuten und Sekunden gab?
Meine Zeit ist wandelbar. Manchmal verrinnt sie mir quecksilbrig zwischen den Fingern. Manchmal dehnt sie sich zum Ozean. Manchmal schwimme ich darin wie in einem warmen Bad. Manchmal versuche ich sie einzufangen, einzumachen, damit ich mich erinnern kann an eine vergangene Zeit. Manchmal entwischt sie mir – und manchmal nimmt man sie mir mit Formularen und Telefonaten. Manchmal scheint sie sich aufzuteilen: Wenn die Zeit in einem Lebensbereich rast, und in einem anderen scheint alles stillzustehen. Dann macht die Zeit einen Spagat.
Mariann Bühler ist Autorin und Literaturvermittlerin. Sie schreibt 2025 als Gastautorin für das Pfarreiblatt und die Website Sursee.
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