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Raus mit der Sprache oder: Mut zur Lücke

Mariann Bühler 28.10.2025

Man sitzt am Tisch, versteht wenig – und doch wächst etwas: Ein Netz aus neuen Wörtern, zusammengehalten von Fantasie und Lebenserfahrung.

Beim Frühstück habe sie kurz die Augen geschlossen. Ganze sechs Sprachen habe sie aus den Gesprächen um sie herum gehört, sagte die Leiterin des Festivals, Begoña Feijoo Fariño. Dreihundertunddreissig Kilometer bin ich dieses Wochenende gereist, vom obersten Rand der Schweiz bis in den untersten Zipfel. «Lettere dalla Svizzera alla Valposchiavo» heisst das vielsprachige Festival, «Briefe aus der Schweiz ins Puschlav». Auf dem Plakat streckt eine bunte Frau die Zunge raus, treu dem Motto des Festivals: «Tira fuori la lingua». Auf Deutsch lässt sich das mit «raus mit der Sprache» übersetzen – im Italienischen schwingt aber auch «die Zunge rausstrecken» mit. 
Um Sprachen und ums Sprechen hat sich denn auch das ganze Wochenende gedreht, vom Morgen bis am Abend. Angefangen hat das schon beim Frühstück: «Darf ich mich dazusetzen? – No parlo l’italiano, est-ce que tu parle français?» 
Die Sprachen bei den Tischgesprächen haben fliegend gewechselt, fast alle konnten sich in mindestens zwei Sprachen durch Gespräche hangeln und einer dritten ungefähr folgen. So stellen sich viele ausserhalb der Schweiz wohl die vier- oder eher vielsprachige Schweiz vor.

 

Lost in Translation
Wie so viele habe ich mein Schulfranzösisch nach der Schule erstmal beiseitegelegt und Staub ansetzen lassen. Italienisch habe ich nie gelernt, mein Wortschatz reicht gerade, um nicht zu verhungern. Und dem Rätoromanischen lausche ich staunend, schnappe da und dort ein bekanntes Wort auf, kann dem Gespräch aber nicht folgen. 
In den Veranstaltungen war es ähnlich: Wenn vorne französisch, italienisch oder Rätoromanisch gesprochen wurde, kam ich einen Moment mit, dann war ich «lost in translation», verloren zwischen den Sprachen. 
Anfangs hat mich das deprimiert. «Was soll ich da sitzen, ich verstehe ja sowieso nur die Hälfte», habe ich gedacht. Aber wie ich da so sass, mit gespitzten Ohren und gestielten Augen (es könnte ja sein, dass die etwas aufschnappen) hat sich der Gedanke umgedreht: «Die Hälfte», habe ich gedacht, «verstehe ich ja.» 
Klar, da waren Löcher, aber um die Löcher herum gab es immer wieder einige Wörter und Sätze, die ich verstand. Und es waren genügend Wörter und Sätze, dass ich damit so etwas wie ein Netz aus Sinn basteln konnte. Und die Lücken konnte ich laufend ausmalen, mit Mutmassungen, Lebenserfahrung oder einfach Fantasie.

 

Eingefangene Wörter
So habe ich angefangen, an diesem Netz zu knüpfen. Kein besonders gleichmässiges, kein besonders schönes, aber ein spannendes Gebilde ist dabei entstanden. Ich habe Wörter eingefangen in diesem Sprachnetz aus zusammengeknüpften Fäden: «Sbragizi» heisst Geschrei und reimt sich wunderbar auf eine ganze Reihe von Wörtern im rätoromanischen Idiom Vallader. «La niece» heisst die Nichte auf Französisch, und als das geklärt war, nahm ein Gespräch darüber, wie man junge Frauen in ihrer Freiheit unterstützen kann, seinen Lauf. Das schöne Wort «Randulin» habe ich mitgenommen, die Schwalbe, aber auch eine Person, die nur im Sommer da ist und danach wieder verschwindet. 
Ein Wort nach dem anderen habe ich eingesteckt, da einen Satz mitgenommen, dort eine Lücke im Verständnis überwunden. «Ätschbätsch» gesagt und dem Nicht-Verstehen die Zunge rausgestreckt. Das ist in weit mehr als sechs Sprachen verständlich.

Mariann Bühler ist Autorin und Literaturvermittlerin. Sie schreibt 2025 als Gastautorin für das Pfarreiblatt Sursee.

CC0 jason M / Pixabay
 

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