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Mitten im Leben über das Sterben sprechen

Rebekka Dahinden 01.11.2025

Ein Ort, an dem man offen über Krankheit, Abschied und Leben sprechen kann, ist das Palliative Café in Sursee. Die Mitbegründer Josef Wey und Andrea Arnet im Gespräch über das Angebot.

Palliative Care ist mehr als Behandlung – sie steht für eine besondere Haltung gegenüber schwer kranken Menschen. Wie würden Sie diese beschreiben?

Josef Wey: Palliative Care heisst, schwerkranke Menschen und ihre Angehörigen auf ganzheitliche und achtsame Weise zu begleiten, um ihre Lebensqualität zu verbessern. Der Begriff ist in den letzten Jahren viel präsenter geworden – man hört darüber in den Medien, bei Vorträgen, im Alltag. Heute wird mehr darauf geachtet, die Lebensqualität von Menschen mit lebensbedrohlichen Erkrankungen in den Vordergrund zu stellen.




Sie sind hier in Sursee als Hausarzt tätig. Welche Rolle spielt Palliativmedizin in Ihrem Alltag?

Josef Wey: Technisch und medizinisch ist heutzutage vieles möglich. Da stellt sich schwerkranken Menschen die Frage: Was ist medizinisch machbar – und was ist sinnvoll? Die Palliativmedizin hat zum Ziel, mit verschiedenen Unterstützungsmassnahmen die Menschen während ihres Behandlungsprozesses zu begleiten. Wir Hausärzte übersetzen gewissermassen die Diagnosen der Spezialisten und schauen mit den Betroffenen: Was ist sinnvoll? Wie kann es weitergehen? Was sind die Vor- und Nachteile einer Behandlung? Wir sind die Coaches unserer Patientinnen und Patienten.




Der Begriff Palliative Care wird von vielen Menschen mit einer geringen Heilungschance und einer schwierigen Ausgangslage verbunden. Wie kommunizieren Sie mit Betroffenen und Angehörigen?

Josef Wey: Palliative Care ist ein Begriff, den man nicht sofort verwendet, weil er bei vielen Menschen negative Gefühle auslöst. Man hat gemerkt, dass der Begriff schwierig geworden ist, obwohl er eigentlich etwas Gutes meint. Dabei bedeutet Palliative Care nicht, dass medizinisch nichts mehr unternommen wird. Es geht vielmehr darum, zu ergänzen – zu schauen, was zusätzlich zur bestehenden Therapie möglich und sinnvoll ist. Welche Bedürfnisse hat eine Person während einer Behandlung? Was braucht es, damit sie sich wohlfühlt?
Es geht um unterstützende Massnahmen – nicht um ein «Entweder-oder», sondern um ein «Sowohl-als-auch». Das Palliative Café soll helfen, falschen Vorstellungen entgegenzuwirken.


 

«Fragen rund ums Sterben gehören zurück in die Gesellschaft.»
Andrea Arnet




Andrea Arnet: Es ist der Fokus, der sich ändert: Es geht nicht mehr um Heilung, weil diese nicht mehr möglich ist, sondern um Lebensqualität. Man bricht die Behandlung nicht ab, sondern stellt sie anders auf und fragt: Was braucht diese Person? Was verbessert ihre Lebensqualität? Diese ist so individuell wie der Mensch selbst. Deshalb sprechen wir Pflegefachleute mit den Patientinnen und Patienten ganz konkret darüber: Was ist dir wichtig? Was können wir tun, um dich zu unterstützen? Solche Gespräche zu führen und genau hinzuhören, ist für mich ein sehr wichtiger Teil der Palliativpflege.




Es sind existenzielle Fragen, die Sie anstossen.

Andrea Arnet: Ja, das ist so. Und es ist wichtig, dass man diese Fragen rund um Lebensqualität und Sterben wieder zum Thema macht. Und auch hierzu dient das Palliative Café: Dort kann man sich mit diesen Themen auseinandersetzen – und das idealerweise nicht erst, wenn man persönlich mit Palliative Care konfrontiert ist.



 

«Der Begriff Palliative Care ist schwierig geworden, obwohl er eigentlich etwas Gutes meint.»
Josef Wey

 



Sie haben mit dem Netzwerk Sempachersee das Palliative Café ins Leben gerufen. Was steht dahinter?

Josef Wey: Als wir als Netzwerkgruppe starteten, haben wir überlegt, was es braucht und wie wir aktiv werden wollen. Wir haben Experten eingeladen und Vorträge organisiert, aber schnell gemerkt, dass es schon viel in dieser Richtung gibt. Wir wollten etwas Persönlicheres schaffen – einen Ort, wo man ohne Anmeldung und unverbindlich vorbeikommen kann. Wo sich Betroffene und Angehörige einbringen und austauschen können über ihre Fragen und Anliegen. Das Restaurant «Iheimisch», so sind wir überzeugt, ist ideal dafür: mit grossen Glasfronten, offen und einladend, wo man einfach reinkommen oder erstmal nur einen Blick reinwerfen kann.

Andrea Arnet: Es ist kein Geheimnis: Im Gesundheitsbereich herrscht grosser Zeitdruck, und nicht immer gibt es genug Zeit für Patientinnen, Patienten und Angehörige. Das Palliative Café versucht, dies etwas aufzufangen. Hier können Fragen gestellt werden, die sonst zu kurz kommen.
 




Wenn Vernetzung eine Voraussetzung für gute Palliative Care ist – welche Rolle kann dann ein Angebot wie das Palliative Café spielen?

Josef Wey: Das Palliative Café dient der Vernetzung unter Betroffenen und Angehörigen, aber auch unter Fachleuten. Wir arbeiten dabei mit Pflegefachleuten, Seelsorgenden, mit Sterbebegleitpersonen und mit Vertretern aus der Komplementärmedizin zusammen. Ziel ist, die verschiedenen Unterstützungsmöglichkeiten zu bündeln und zugänglich zu machen.
Beim Palliative Café sind jeweils drei Fachpersonen vor Ort – aus dem medizinischen Bereich, der Sterbebegleitung oder anderen Fachrichtungen. Meist geht es in den Gesprächen um medizinische Fragen. Aber grundsätzlich sind alle Themen willkommen und wichtig.

Andrea Arnet: Das offene Ohr und das Zuhören sind zentral. Wir wollen präsent sein, nicht im stillen Kämmerlein, sondern mitten im Leben – in Sursee, mit Musik und jungen Menschen am Nebentisch. Es geht um Enttabuisierung. Im besten Fall integrieren wir damit den Tod und die Fragen rund ums Sterben wieder mehr ins Leben. Diese Fragen gehören zurück in die Gesellschaft.



 

«Im Palliative Café können Fragen gestellt werden, die sonst zu kurz kommen.»
Andrea Arnet





Welche Rückmeldungen haben Sie aus der Durchführung des Palliative Cafés erhalten?

Josef Wey: Wir nehmen wahr, dass das Angebot gut ankommt. Die Teilnehmenden nehmen sich bewusst Zeit, setzen sich mit dem Thema auseinander und bleiben dran. Vielen Menschen tut es gut, wenn sie über ihre Situation sprechen können. Es entsteht ein Austausch – man gibt sich gegenseitig Tipps, holt sich neue Impulse, bringt Bewegung in Gedanken, wenn man innerlich im Kreis dreht.

Andrea Arnet: Wir haben bisher noch nicht viele, aber sehr wertvolle Rückmeldungen erhalten. Ich erinnere mich an ein besonders eindrückliches Erlebnis mit einer schwerkranken, jungen Frau, die uns offen von ihrer Situation erzählte. Sie hatte ihren Abschied minutiös geplant, bis über den Tod hinaus. Doch dann kam die Frage: Und wenn das alles nicht aufgeht? Welche Optionen habe ich dann? Wie könnte ein Plan B aussehen?

Wir haben sie dann auf das Hospiz aufmerksam gemacht. Sie war sehr dankbar für den Austausch mit Fachpersonen, denn für sie war es wie eine Art Rückversicherung: Habe ich wirklich an alles gedacht? Eine andere Frau sagte mir: Um dieses Angebot wäre ich froh gewesen, als ich meinen Mann gehen lassen musste. Solche eindrücklichen Erfahrungen mache ich immer wieder.

Die Menschen kommen mit Erlebnissen, die sie im Spital gemacht haben – sie möchten sie verarbeiten oder besser verstehen. Für uns Fachpersonen bietet das Palliative Café die Chance, Dinge zu erklären und damit bei der emotionalen Verarbeitung zu helfen.
Manchmal werden wir auch mit Fragen konfrontiert wie: Wie lange dauert es noch, bis jemand gehen kann? Solche Fragen greifen wir auf und möchten wir diskutieren: Warum fällt es uns so schwer, geduldig zu sein? Darf jemand sich die Zeit zum Gehen nehmen – oder nicht?

 



Wenn das Gespräch ums Lebensende kreist, tauchen früher oder später auch Fragen zur Selbstbestimmung auf – bis hin zu Exit. Wie positionieren Sie sich dazu?

Josef Wey: Das ist ein schwieriges Thema. Ein Grundanliegen der Palliativmedizin ist, dass Exit gar kein Thema mehr wird. Es gibt viele Möglichkeiten, Menschen in schwierigen Situationen so gut zu begleiten, dass die Frage von Exit gar nicht aufkommt und sie ihr Schicksal annehmen können.

Wir haben auch schon überlegt, das Thema mal in einem Vortrag aufzugreifen. Wir wollen es nicht ignorieren, aber im Mittelpunkt steht immer die Würde der Patientin oder des Patienten. Denn Palliativmedizin will die letzte Lebensphase so gestalten, dass die Menschen nach ihren Wünschen leben und einen stimmigen Abschied haben.

Andrea Arnet: Direkt mit der Exit-Frage wurde ich bisher nicht konfrontiert. Aber ich habe Patienten erlebt, die sich aufgrund ihrer Situation als Last für andere fühlten.

Josef Wey: Wenn sich Kranke als Belastung für die Angehörigen fühlen, ist das ein Problem. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass Angehörige stärker geschützt werden. Wenn ambulant viel angeboten wird, steigt der Druck auf das private Umfeld. Fühlen sich Angehörige überfordert oder können sie die Pflege nicht übernehmen, muss das berücksichtigt werden. Der Patient steht im Mittelpunkt, aber auch das Umfeld ist betroffen. Darauf müssen wir mehr achten.

Wichtig ist mir dabei auch, die Rolle der Spitex hervorzuheben: Vor allem im ambulanten Bereich ist sie oft die erste Anlaufstelle – wenn Fragen auftauchen oder konkrete Unterstützung gebraucht wird.

 



Sie setzen sich sehr engagiert für das Thema Palliativpflege ein. Welche Entwicklungen erhoffen Sie sich in diesem Bereich für die Zukunft?

Josef Wey: Mein Wunsch ist es, dass Palliative Care ein Alltagsthema wird. Dass man offen darüber sprechen kann und Worte dafür findet. Wir von der Netzwerkgruppe möchten dabei bestmögliche Unterstützung bieten und Informationen leicht zugänglich machen. Palliative Care soll kein Tabuthema mehr sein, sondern auch in guten Zeiten Platz in der Gesellschaft finden.

Andrea Arnet: All dem kann ich nur zustimmen. Für mich muss das Netz der Zusammenarbeit noch dichter geknüpft werden. Wir haben einen Anfang gemacht, aber es braucht mehr Koordination, damit wirklich alle Menschen, die Unterstützung brauchen, diese auch erhalten.

Unsere Gesellschaft verändert sich: Die Menschen werden älter, es gibt immer mehr Einpersonenhaushalte, und viele jüngere Menschen verfügen nicht über ein tragendes soziales Umfeld. Die Unterbringung jüngerer Palliativpatientinnen und -patienten in einem Pflegeheim etwa stellt häufig keine optimale Lösung dar. Deshalb braucht es zusätzliche Angebote, ein einziges Hospiz für einen ganzen Kanton reicht da nicht aus. Auch die Finanzierung solcher Einrichtungen muss langfristig gesichert werden.

 

 

 

 

Palliative Café 

Das Palliative Café findet jeweils am ersten Dienstag des Monats von 14.00 bis 16.00 Uhr im Restaurant «Iheimisch» (St. Urban-Strasse 6, Sursee) statt.

Es ist ein offener Treffpunkt für Menschen mit lebensbedrohlicher Erkrankung, ihre Angehörigen, Bezugspersonen und Nachbarn. In ungezwungener Atmosphäre können Gedanken, Gefühle und Fragen geteilt werden. Begleitet von drei Fachpersonen mit Erfahrung in Palliative Care.

Unverbindlich, ohne Anmeldung. Eintritt frei – Spende willkommen.
 

 

Mehr zum Netzwerk Palliative Care Sempachersee erfahren Sie hier.

 

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