In der Vielfalt wird die Fülle sichtbar
Tanja Metz 24.10.2025
Fabienne Eichmann erzählt im Interview von der Vielfalt, die sich in der Kirche immer wieder zeigt.
Wo hast du das letzte Mal eine überraschende und vielfältige Kirche erlebt?
Am Lottonachmittag in unserem Besinnungswochenende. Eine junge Frau mit Gehhilfe hat sich mit viel Mühe nach vorne zum Gabentisch bewegt. Alle haben geduldig gewartet – es war ein richtiger Kraftakt für sie und Begleitende. Und dann sagt sie vorne: «Ich möchte gar keinen Preis.» Da hätte man raunen können: «Musste das jetzt sein? All der Aufwand für nichts?» Aber genau darum geht es: um die Wahl. Echte Inklusion heisst nicht, dass wir für andere entscheiden, sondern dass wir Zugänge schaffen, damit jede:r selber entscheiden kann. Auch dann, wenn das Ergebnis uns überrascht. Manchmal zeigt Kirche ihre Vielfalt eben nicht in grossen Gesten, sondern in solchen kleinen, leisen Momenten.
«Vielfalt gehört zur DNA der Kirche»
In welchen unterschiedlichen Bereichen zeigt sich die Vielfalt der Kirche?
Im Grunde genommen überall! Vielfalt begegnet mir in jeder Begegnung mit Menschen. Für mich heisst das: Kirche ist Vielfalt! In diesem Sinn bin ich gerne «katholisch», im Wortsinn «umfassend». Nichts ist zu klein oder zu bunt für Gott. Vielfalt gehört zur DNA der Kirche.
Wo würdest du dir mehr Vielfalt wünschen und warum?
Ganz klar: in den Entscheidungsgremien und in der Verkündigung. Dort wird bestimmt, wer gehört wird und welches Bild von Kirche sichtbar wird. Wenn da nur wenige Stimmen sprechen, bleibt Kirche schmalspurig. Mit mehr Vielfalt hingegen öffnet sich das ganze Panorama. Manchmal braucht es dazu einfach ein bisschen Mut, das Mikrofon auch mal jemand anderem in die Hand zu drücken.
Warum ist Vielfalt im Glaubensleben für alle wichtig?
Weil Gott nicht «alleine zu haben» ist. Jede:r entdeckt einen Teil, eine Facette. Erst in der Vielfalt wird die Fülle sichtbar. Und, Hand aufs Herz: Wer will schon einen Gott, der so klein ist, dass er in meine private Schublade passt? Die biblische Botschaft ist grundsätzlich auf Vielfalt ausgerichtet.
Das beste Beispiel ist Gott selbst. Wir denken Gott als Beziehung. Sich um Vielfalt und Zugehörigkeit zu bemühen, ist also nicht etwas, das die Kirche zusätzlich macht – es ist ihr Kerngeschäft, ihr Basis-Angebot.
Wie kann Vielfalt bewusst gefördert und entwickelt werden?
Indem wir Räume schaffen, in denen Unterschiedlichkeit nicht nur toleriert, sondern gefeiert wird. Mit Sprache, die verstanden wird. Mit Musik, die verschiedene Geschmäcker abholt. Mit Strukturen, die echte Teilhabe ermöglichen. Und mit der Haltung: Wir trauen Menschen zu, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. So wie bei der Frau am Lottonachmittag. Oft auch ein kleines bisschen überraschend. Und ja, Vielfalt bedeutet auch, damit leben zu können, dass vom «Gabentisch Kirche» manchmal nichts genommen wird. Für mich ist das Kirche: ein Raum, in dem Menschen ihren Platz finden – auf ihre eigene, vielfältige Weise.
Fabienne Eichmann ist Leiterin der Katholischen Behindertenseelsorge Luzern.
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