Ein Raum für mich allein und eine Türe zur Welt
Mariann Bühler 11.10.2025

Inmitten sprachlicher Vielfalt und politischer Geschichten entsteht ein Nachdenken darüber, was Privileg bedeutet – und was es heisst, eine gemeinsame Sprache zu finden.
Die nächsten drei Monate bin ich Stipendiatin am Rande von Berlin. Hier darf, soll, will ich an meinem nächsten Buch schreiben. Vor zwanzig Jahren habe ich schon einmal ein halbes Jahr in dieser Stadt gelebt. Sie hat sich verändert: Auf den Brachen von damals stehen heute Hochhäuser und Einkaufszentren, die Lücken im Stadtbild sind verschwunden. Die Unterschiede zwischen arm und reich sind noch sichtbarer geworden, nicht nur in der Architektur, auch in den Menschen ohne Wohnung. Ihr einziger Raum ist der öffentliche.
Eine vielsprachige WG
Ich hingegen habe einen Raum für mich allein. Wenn ich am Morgen aufstehe und darauf warte, dass der Kaffee in meine Tasse läuft, kommen Z. und D. in die Küche. Z. ist erst eins und spricht noch nicht, ich gehe darum davon aus, dass er Schweizerdeutsch versteht. Zu D. sage ich «good morning», weil ich kein Ungarisch kann. K. spricht Schweizerdeutsch, T. würde das meiste verstehen. Mit P. spreche ich Englisch, obwohl sie ganz gut Deutsch versteht. A. spricht auch Englisch. Es hat einen Moment gedauert, bis ich mich an den persischen Klang gewöhnt habe, der auch eigenartige Dinge mit der Satzstellung macht. M. und ich haben anfangs Englisch gesprochen, bis wir freudig festgestellt haben, dass wir uns auf Französisch besser verstehen. N. schreibt Französisch, spricht aber so gut Englisch, dass ich mein rostiges Schulfranzösisch wieder einpacken kann. Wir tasten uns in dieser vielsprachigen WG aneinander heran, sind froh, dass wir gemeinsame Sprachen haben, in denen wir uns unsere Leben erzählen können, unsere Erlebnisse in dieser grossen Stadt, die grossen Fragen stellen, die der Blick in die weite Welt aufwirft.
Wir unterscheiden uns nicht nur in unseren Sprachen, auch in unserem Alter, unseren Geschlechtern, unserer Herkunft. A. weiss, was Krieg ist, er ist an der Grenze zu Afghanistan aufgewachsen. N. hat in einer Werbeagentur in Abidjan gearbeitet, bevor ein französischer Verlag sein Buch herausgegeben hat. C., der vor ein paar Tagen abgereist ist, hat über Entwicklungen in den USA erzählt, die mir Angst machen.
Einstehen für das, was zählt
Hier wird mir besonders deutlich bewusst, in was für ein privilegiertes Leben ich per Zufall hineingeboren bin. «Ich habe in meinem bisherigen Leben ein grosses Mass an Sicherheit und Freiheit erfahren», sage ich zu meinem Besuch auf der Terrasse und dann erzähle ich von meinen Mitstipendiat*innen, die in fremden Ländern wohnen, weil in ihren Herkunftsländern kein sicheres Leben möglich ist.
Mein Besuch nickt und sagt einen einzigen treffenden Satz: «Diese Geschichten zeigen einem, wofür es sich einzustehen lohnt.» Ich weiss bisweilen nicht wie, aber dafür einstehen will ich. Ein Anfang ist vielleicht das Zuhören, eine gemeinsame Sprache zu finden, auch wenn das nicht auf Anhieb klappt.
Und wenn die gemeinsame Sprache nicht schon da ist, eine erlernen. So hat eine Freundin gestern einen Sprachkurs begonnen. Sie will Ungarisch lernen. Nach dem Kurs hat sie mir geschrieben: «Weisst du, als wir zu Beginn ungarische Wörter gesammelt haben, die wir kennen, hast du sofort bemerkt, wer durch eine geliebte Person mit der Sprache verbunden ist.» Ich bin gespannt, welche Wörter ich hier lerne.
Mariann Bühler ist Autorin und Literaturvermittlerin. Sie schreibt 2025 als Gastautorin für das Pfarreiblatt Sursee.
Bild: CC0 Zach Reiner, unsplash.com
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