Die Rückseite des Lebens
Mariann Bühler 01.10.2025

Ebbe und Flut verändern täglich die Küstenlinie – und legen eine verborgene Welt frei.
Diesen Sommer war ich am Meer. Als Binnenländerin fasziniert es mich seit jeher. Zwölf Jahre hat es gedauert, bis ich es zum ersten Mal zu Gesicht bekommen habe, und ich gebe zu, ich war etwas enttäuscht: Zwar war das Wasser so leuchtend blau, wie ich mir das vorgestellt hatte, aber dieser Teil der Adria lag so ruhig da wie der Sempachersee. Keine ernstzunehmende Welle weit und breit.
Nun habe ich mir ein anderes Meer ausgesucht: Der Ärmelkanal gehört zum Atlantik. Und obwohl ich keine stürmischen Tage erlebt habe, war die Kraft des Meeres täglich sichtbar. Ebbe und Flut kamen und gingen in einem stetigen Auf und Ab. Mit welchem Tempo das geschah, welche Wassermassen da dauernd in Bewegung sind, welche Flächen täglich zweimal freigelegt und überschwemmt werden, das alles war mir neu. Das Wasser gehorcht einer Mischung aus Fliehkraft, Erdanziehung, Mondphase, Küstenform und weiteren Faktoren, die ich nur ansatzweise verstehe. Das Wasser kommt und geht, nichts kann es aufhalten.
Muscheln und andere Kuriositäten
Von der Ferienwohnung aus sah ich auf eine Bucht. Ich sah den Hafen, wo die Boote auf dem Trockenen lagen und wenige Stunden später acht Meter höher an der Hafenmauer schaukelten. Ich sah, weit draussen, wie die Felder einer Muschelzucht aus dem Wasser auftauchten und wieder darin verschwanden. Und ich schaute Menschen bei der «pêche à pied» zu. Ausgerüstet mit kleinen Schaufeln, Rechen und Eimern zogen sie los, um «zu Fuss zu fischen». Wer sich nämlich auskennt und weiss, wo man graben muss, findet im freigelegten Sandboden allerlei Muscheln und andere Leckerbissen. Sie sind weit in die Bucht hinausgewandert, ich habe sie nur noch als kleine Striche zwischen den glänzenden, flachen Tümpeln aus Meerwasser wahrnehmen können. Für mich sind Muscheln weniger Leckerbissen, aber faszinierende, unbekannte Lebewesen – so ganz anders als alle Tiere, die mir vertraut sind. Zwischen den vielen leeren Muscheln am Strand lag eine noch bewohnte. Etwas, das wie eine behaarte Zunge aussah, schob sich daraus hervor, züngelte im flachen Wasser, wahrscheinlich suchend nach Nahrung.
Im Untergrund und am Horizont
Am Wasserrand rollten in den kleinsten Wellen Dutzende kleine, spitze Schneckenhäuser. Es dauerte eine Weile, bis ich sah, dass nicht nur das Wasser die Schneckenhäuser bewegte, sie wurden auch von innen heraus bewegt. Kleine Einsiedlerkrebse wohnten darin und buddelten sich so schnell wie möglich wieder im Sand ein, um unsichtbar und damit ungestört zu bleiben.
Beim Strandspaziergang musste ich nun daran denken, was sich alles im Sand unter meinen Füssen verbergen mochte. Aber ich musste nur den Blick heben und auf das Wasser schauen, das, von riesigen Kräften angetrieben, immer am Kommen oder Gehen ist. Ich bin mir abwechselnd sehr gross und sehr klein vorgekommen. Und ein bisschen, als wäre ich auf der Rückseite meines Lebens unterwegs: Das, was mich sonst an- und umtreibt, war weit weg. Es würde wieder kommen, nach den Ferien, aber für diese Zeit am Meer war es weit weg, wie das Wasser bei Ebbe.
Mariann Bühler ist Autorin und Literaturvermittlerin. Sie schreibt 2025 als Gastautorin für das Pfarreiblatt Sursee.
Bild: CC0 Arenda Vermeulen/pexels
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