Die Mitte des Tages – DU
Niklaus Kuster 13.06.2024

Das Geläut der Kirchenglocken ist nicht nur ein Symbol für die Verkündigung der christlichen Botschaft. Es hat auch eine praktische Funktion.
In der Tagesmitte läuten die Kirchenglocken. Das war nicht immer so. Woher kommt der Brauch und wozu lud der Glockenklang lange Zeit ein? Im Mittelalter kündigten die Glocken einer Stadtkirche abends das Schliessen der Stadttore an. Wer noch draussen war, machte sich auf den Heimweg. Um 1250 begannen Franziskaner, abends in ihren Klöstern ein kirchliches Läuten einzuführen. Die Brüder luden die Leute im Umfeld ein, zu diesem Glockenklang jeweils den «Angelus» zu beten und an die Menschwerdung Gottes zu denken. Mitten im Alltag wird die junge Maria von Nazaret vom Boten Gottes (lateinisch angelus) überrascht und für Gottes Plan gewonnen, seinen Sohn zur Welt zu bringen. Inspiriert war dieses Abendläuten von Franziskus’ Mission in Ägypten. Im Herbst 1219 suchte der Menschenfreund im Fünften Kreuzzug Frieden zu vermitteln. Der Versuch scheiterte, doch gewann der Bruder den Sultan zum Freund und liess sich von der praktischen Spiritualität des Islam beeindrucken. Fünfmal täglich rief der Muezzin Muslime zum Innehalten und zu einem kurzen Gebet auf. Zurück in Italien, schlug Franziskus in einem Rundbrief an alle Völker vor, sich weltweit mindestens einmal täglich durch ein öffentliches Zeichen mitten im Alltag zu sammeln und vor dem Gott aller Menschen zu neigen.
Die Mitte nicht verlieren
Im 13. Jahrhundert verbreiteten die Franziskaner auf diesen Impuls hin das Abendläuten in ihren Kirchen. Als sich dieses fest eingebürgert hatte, kam im 14. Jahrhundert das Morgenläuten dazu, und im 15. Jahrhundert das Mittagsläuten. 1571 schliesslich ordnete der Papst Pius V. an, dass alle katholischen Kirchen morgens, mittags und abends zum «Angelusgebet» läuten sollen. Im Rundschreiben, mit dem Franz von Assisi zum Innehalten im Alltag aufrief, steht als Begründung: «Lasst nicht zu, dass ihr durch alltägliche Sorgen und alle Geschäfte, die euch beanspruchen, die Mitte verliert und Gott vergesst!» Dasselbe Motiv dürfte den Propheten Mohammad bewegt haben, täglich fünf Gebetsrufe für die islamische Welt vorzusehen: das Fajr als Morgengebet im ersten Tageslicht, das Zuhr als Mittagsgebet kurz nach dem höchsten Stand der Sonne, das ‘Asr als Nachmittagsgebet, das Maghrib nach Sonnenuntergang und das ‘Isha in der anbrechenden Nacht.
Im Kapuzinerkloster Rapperswil betet unsere ökumenische Gemeinschaft viermal gemeinschaftlich: am Morgen, am Mittag, am Abend und an der Schwelle zur Nacht. Das Mittagsgebet dauert nur eine Viertelstunde und endet mit dem Glockenläuten Schlag zwölf. Einem Geistlied folgt Stille und zum Glockenklang ein neu formuliertes Angelusgebet:
Der Mittag lässt uns innehalten
Gott.
In der Mitte des Tages – wir
die Mitte des Tages – Du
mitten im Leben – wir
die Mitte des Lebens – Du
mitten im Weltgeschehen – wir
die Mitte der Welt – Du
Bleibe mit uns,
Gott des Lebens,
mitten in diesem Tag
und in den Stunden, die kommen!
Amen
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