Der kleinste gemeinsame Nenner
Mariann Bühler 01.07.2025

Was als Gruppenchat unter Bekannten in Paris begann, wurde zu einem Ort, der Lebenswelten verbindet.
Noch bevor ich etwas am Radio gehört oder im Internet gelesen habe, hat F. aus Sri Lanka in den Gruppenchat geschrieben: N., ich hoffe, du und die deinen sind in Sicherheit. M., von der ich nicht weiss, wo sie gerade ist, hat sich kurz darauf ähnlich gemeldet. K. hat aus Berlin Mut gewünscht und N. geschrieben, dass wir an sie denken. Einige Stunden später kam eine Nachricht von N.: Im Moment seien sie und ihre Familie in Sicherheit. Danach kamen weitere Nachrichten von anderen Gruppenmitgliedern aus Australien, Irland, Ägypten oder der Schweiz.
N. lebt in Teheran, wo Bomben fallen. Wir haben uns vor ein paar Jahren in Paris kennengelernt, wo auch dieser Gruppenchat entstanden ist. Er heisst «Monday Dinner», weil jeden Montag jemand aus der Gruppe für alle anderen gekocht hat. Wir waren zwölf Personen aus elf Ländern.
Wir könnten unterschiedlicher nicht sein
Uns verbindet die gemeinsame Zeit in Paris, die zwei Handvoll Abendessen, die dazugehörenden Gespräche, Streifzüge durch die Stadt, die uns allen fremd war und nach und nach vertrauter wurde. Und uns verbindet dieser Gruppenchat, der auch nach mehr als zwei Jahren immer wieder aufleuchtet: Wenn sich zwei aus der Gruppe irgendwo auf der Welt treffen und ein Foto schicken. Wenn jemand etwas zu feiern hat – eine Ausstellung, ein Buch. Wenn sich jemand an die gemeinsame Zeit erinnert. Und manchmal, wenn sich die weltpolitische Lage so verändert, dass wir uns Sorgen machen um jemanden in der Gruppe. Dann fragen wir nach, schicken Wünsche, hoffen.
Einzeln betrachtet könnten wir unterschiedlicher nicht sein: Wir sind zwischen Mitte zwanzig und Anfang sechzig. Wir sind Männer und Frauen, haben verschiedene Hautfarben, wir sind queer oder auch nicht, verheiratet, Single, in langjährigen Beziehungen, geschieden, wir haben Kinder oder keine, wir sind in christliche, muslimische, atheistische Familien geboren, sind ein-, zwei-, vielsprachig aufgewachsen, fühlen uns auf vier verschiedenen Kontinenten mehr oder weniger zuhause.
Wahlverwandtschaften
Manchmal frage ich mich, warum gerade wir zusammengefunden haben. Es fühlt sich nach Verwandtschaft an: M. könnte Tante sein oder grosse Schwester, ist zwanzig Jahre älter als ich, hat viel erlebt und wir jüngeren Frauen denken: So wie M. wollen wir älter werden, so furchtlos, so offen für die Welt, und gleichzeitig so klar in unseren Grenzen. F. ist manchmal ein kleiner Bruder, noch so jung, und dann wieder der grosse Bruder. Er hat Verluste erlebt, die ich mir nicht vorstellen kann. Von M. und K. weiss ich nicht viel, ihre Erzählungen haben nur Schlaglichter auf ihre Leben geworfen. Es fühlt sich aber an, als könnten wir diese Schneisen aus Licht jederzeit erweitern. Bei N. ist es ähnlich. Einmal hat ihr etwas grosse Angst gemacht. Wir haben zusammen Patisserie gegessen und über die Angst gesprochen. Ich mit meiner behüteten Schweizer Herkunft konnte ihre Angst nicht fassen, konnte nur zuhören, kam mir eigenartig ungeeignet vor dabei, und wollte doch wenigstens das tun für N.
Seit diesen Monaten in Paris nehme ich die täglichen Nachrichten anders wahr. Wenn ich einen Artikel über Sri Lanka oder den Iran lese, überlege ich unweigerlich, was das für F. und N. bedeuten mag. Die Verwandtschaft, die uns verbindet, über Kontinente, Länder, Sprachen hinweg, ist unsere Menschlichkeit. Alles andere sind Details.
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