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«Der Jakobsweg lässt einen nicht los»

Rebekka Dahinden 20.10.2025

Drei Monate zu Fuss unterwegs. Roland Grütter pilgerte nach Santiago de Compostela – zum zweiten Mal.

Roland Grütter (67) hat sich nach seiner Pensionierung auf den Jakobsweg gemacht. 2023 ist der langjährige Mitarbeiter der Pfarrei Nottwil zu Fuss nach Santiago de Compostela gepilgert. Von seinem Zuhause in Roggwil aus, 2650 Kilometer und ganz alleine. Mit seiner Frau hatte er den Jakobsweg bereits einmal gemacht, etappenweise über sieben Jahre verteilt. Im Gespräch mit dem Pfarreiblatt Sursee erzählt er nun von den Erfahrungen seiner zweiten grossen Pilgerreise.

 

Roland Grütter, erinnern Sie sich noch an den ersten Tag auf dem Jakobsweg?

Auf jeden Fall, dieser Tag ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Ich bin direkt vor meiner Haustür gestartet. Zuerst lief ich nach Burgdorf, auf dem Weg dorthin konnte ich mich von meinen Kindern verabschieden – und von dort an folgte ich stets der Jakobsmuschel, dem Zeichen des Jakobswegs. Es war der mühsamste Tag der ganzen Reise: Alles schmerzte. Ich hatte Blasen, Knieschmerzen, Rücken- und Nackenschmerzen. Es waren rund 30 Kilometer, und ich war völlig erschöpft. Ich übernachtete in der Jugendherberge im Schloss.

Am nächsten Tag machte ich einen kurzen Abstecher in die Apotheke, um mich mit allem möglichen Hilfsmitteln einzudecken – und ab da wurde es besser. Nach drei Wochen hatte ich keinerlei Beschwerden mehr.

 

Haben Sie sich auf die Reise vorbereitet?

Nein, eigentlich nicht. Ich hatte ja den Jakobsweg bereits einmal mit meiner Frau gemacht. Deshalb wusste ich, worauf ich achten und wie ich meinen Rucksack packen muss.

 

 

«Solche Begegnungen sind nicht planbar, nicht wiederholbar. Sie geschehen einfach.»

 

 

Hatten Sie Erwartungen an die Reise?

Nicht wirklich. Aber ich hoffte, möglichst vielen Menschen zu begegnen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen, das Land zu erleben und zu spüren. Ist man zu Fuss unterwegs, erlebt man vieles intensiver. Das war meine einzige Vorstellung. Aber natürlich wünschte ich mir auch, Klarheit für mich selbst zu finden.

 

Frisch pensioniert auf den Jakobsweg: Es war schon lange ein Wunsch von Roland Grütter, als bewusster Übergang vom Berufsleben in die Pension den Jakobsweg zu gehen. Ein Neuanfang sollte es sein – mit viel Zeit um nachzudenken und die Gedanken zu ordnen. Pilgerinnen und Pilger übernachten in einfachen Herbergen, laufen manchmal ein Stück mit anderen, trinken gemeinsam einen Kaffee, und gehen dann gemeinsam oder alleine weiter. Jede und jeder pilgert im eigenen Tempo.

 

Wie waren die Begegnungen unterwegs?

Ich habe sehr viele Menschen getroffen. Mich interessierte, wer sie sind – und warum sie sich auf den Jakobsweg machten. Die Antworten waren unterschiedlich. Ich gebe ein Beispiel: Ich traf ein französisches Ehepaar in einer Herberge. Ich fragte den Mann, weshalb er pilgerte, und er antwortete: «Ich weinte, als ich pensioniert wurde. Ich liebte meine Arbeit. Aber jetzt möchte ich einmal im Leben etwas Gutes tun.» Das hat mich tief berührt – Gutes tun auf einem so herausfordernden Weg?

Oder eine Frau aus Graubünden: Sie erzählte mir ihre Lebensgeschichte. Ihr Mann war in ihren Armen gestorben, und sie kam nicht darüber hinweg. «Ich habe zu wenig zu ihm geschaut», sagte sie. Sie trug sinnbildlich einen Stein mit sich – den wollte sie ablegen, um neu zu beginnen. Ich traf sie später in Finisterre wieder. Glücklich und erleichtert erzählte sie mir: «Jetzt ist gut. Ich habe es gemacht.» Solche Begegnungen sind nicht planbar, nicht wiederholbar. Sie geschehen einfach. 

 

 

«Natürlich wünschte ich mir auch, Klarheit für mich selbst zu finden.»

 

 

Sie sind verschiedenen Menschen sehr nahe gekommen.

Ja. Die Offenheit ist besonders. Man weiss, man wird sich vermutlich nie wieder begegnen – das erleichtert es, ehrlich und persönlich zu sein. Auf dem Jakobsweg öffnet man sich, dieser Weg hat eine ganz spezielle Aura. Ich blieb aber auch mit Menschen zu Hause in Kontakt. Mehrmals wurde ich von Freunden und Bekannten mit einem Anliegen angeschrieben: «Ich bin im Spital. Bitte bete für mich!» Als Pilger hat man Zeit – ich habe das gerne gemacht.

Ein Stück des Wegs, den ich gegangen bin, heisst Camino del Perdón, das heisst Weg der Vergebung. Ein Freund, der unter einer misslungenen Geschäftsübergabe litt, schrieb mir: «Ich fühle mich von meinem Geschäftsnachfolger betrogen – ich kann ihm nicht vergeben.» Auch das haben wir im Austausch angeschaut. Ich habe viele Anliegen mitgetragen. Immer wieder hörte ich: «Gell, wenn du in Santiago bist, zündest du eine Kerze für mich an?» – In Santiago habe ich dann zehn Kerzen angezündet.

 

Roland Grütter legt ein Fotoalbum auf den Tisch. Gesammelte Fotos, Berichte, Eindrücke und Gedanken dieser dreimonatigen Reise. Die Gedanken und Erlebnisse des Tages festzuhalten, das war für ihn ein festes Ritual. Ebenso wie das Telefonat und der Austausch mit seiner Frau jeden Abend in der Unterkunft.

 

Gab es eine Begegnung, die Sie besonders geprägt hat?

Ja. Ich begegnete einem jungen Mann, etwa zwanzig, aus Deutschland. Er trug das Fischsymbol um den Hals, und wir kamen darüber ins Gespräch. Er sagte: «Ich will hier auf dem Jakobsweg herausfinden, ob ich Christ bin.» In León traf ich ihn zum zweiten Mal. Wir sprachen lange über sein Leben. Ich fragte ihn, ob ich ihn segnen dürfe – und er sagte ja. Ich weiss nicht, was mich dazu bewogen hat. In Santiago trafen wir uns erneut. Wieder kamen wir ins Gespräch und er erzählte mir, dass der Segen ihm auf seinem Weg geholfen habe. Noch heute haben wir Kontakt. Ich könnte sein Grossvater sein, er ist mein «Pilgersohn». Ich habe ihn zum Skifahren in die Schweiz eingeladen, und ihn auch schon in Norddeutschland bei seiner Familie besucht.

 

Was haben Sie vom Pilgerweg in den Alltag mitgenommen?

Ich gehe jeden Monat einen Tag wandern. Im Moment bin ich mit meinem Enkel dabei, die Schweiz zu durchqueren – Stück für Stück. Und ich habe gelernt, wieder Ruhe und Gelassenheit zu finden. Zeit zu haben, das ist heute ein rares Gut.

 

Hat die Pilgerreise Sie verändert?

Nicht grundsätzlich. Aber vielleicht bin ich bewusster und weicher geworden. Auf dem Weg habe ich einen Polen getroffen, der den Weg sieben Mal gegangen ist. Ich dachte zuerst: Der spinnt. Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich nicht auch nochmals gehe. Der Jakobsweg lässt einen nicht los. Ist es der Reiz des Weges – oder mein eigenes Bedürfnis? Ich weiss es nicht.

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