«Wir sind mehr als unsere Blindheit»
Rebekka Felder 04.12.2024

Wer in der Adventszeit über Licht spricht, kann Dunkelheit nicht ausklammern. Wie fühlt es sich an, ohne Augenlicht zu leben? Eine junge Frau erzählt von ihrem Alltag.
Ich treffe Laura Kirschner bei ihr zuhause in Horw. Die junge Frau hat nach der Musikfachmatura angewandte Sprachwissenschaften in Winterthur studiert. Sie treibt mehrmals die Woche Sport, hört gerne Musik, singt, spielt Klavier und trifft sich gerne zum Kaffee mit Freunden. Dass die 25-Jährige seit Geburt blind ist, hält sie nicht davon ab, ein ziemlich normales Leben zu führen. In unserem Gespräch erzählt sie, wie sie die Behinderung in ihr Selbstbild zu integrieren weiss – und weshalb Musik ihr hilft, die Welt intensiv und bewusst wahrzunehmen.
Frau Kirschner, wenn Leute sich zum ersten Mal treffen – wie wir uns heute – entsteht ein erster Eindruck. Oft stützen wir uns dabei auf Dinge, die wir visuell wahrnehmen. Wie läuft das bei Ihnen?
Wenn ich mit Personen spreche, achte ich mich zunächst auf die Stimme – spricht jemand energisch oder eher bedacht? Auch der Geruch oder der Umstand, wie sich jemand bewegt, spielt eine Rolle. Dieser erste Eindruck, den ich mir mache, bestätigt sich im Nachhinein auch oft. Grundsätzlich erlebe ich im Umgang mit uns Blinden zwei Extreme: Jene Personen, die unwahrscheinlich vorsichtig sind. Und andere, die etwas gar forsch vorgehen.
Sie verlassen sich auf andere Sinneswahrnehmungen, um die Umgebung wahrzunehmen. Wie kommen Sie damit zurecht?
Man muss bedenken: Bei Sehenden läuft rund 80 % der Wahrnehmung über die Augen. Das ist bei mir nicht möglich. Die Umwelt nehme ich wie gesagt mit anderen Sinnen wahr, vor allem über Geräusche und Gerüche. Was manchmal auch zu Überforderung führt; etwa, wenn ich lange an einem neuen Ort, unter fremden Personen und vielen Reizen ausgesetzt bin. Dann orientiere ich mich an bekannten Personen und hole mir so Sicherheit. Aber wie ich mich in einer bestimmten Situation zurechtfinde, ist immer auch abhängig von der Tagesverfassung und anderen Umständen. Gerade kürzlich hatte ich ein besonderes Erlebnis.
«Oft weiss ich nicht, was die Leute hören wollen: Möchten sie auf die körperlichen Aspekte zu sprechen kommen? Oder wissen, wie das Leben mit Blindheit ist?»
Bitte erzählen Sie.
Vor ein paar Wochen war ich mit meinen Eltern in Teneriffa, wo wir zehn Jahre lang lebten. Auf der Autofahrt nach Santa Cruz hörten wir eine alte CD. Diese Musik löste eine unwahrscheinliche Energie und Ruhe in mir aus. Angeregt durch die Lieder habe ich die Stadt, die ich von früher gut kannte, ganz anders und intensiver wahrgenommen. Sie haben mir Kraft gegeben, diesen Ort neu zu erleben. Meine Eltern wussten gar nicht, was los war mit mir und weshalb ich unterwegs in der Stadt so viele Fragen stellte. Aber ich wusste: Das hatte mit der Musik zu tun, die wir eben gehört hatten.
Wann wurde Ihnen bewusst, dass bei Menschen in Ihrem Umfeld die Wahrnehmung anders verläuft?
Ich mag mich gut an diesen Moment erinnern, denn auch da spielte Musik eine Rolle. Als kleines Mädchen lag ich im Bett, hörte meine liebste Musikkassette. Da rief ich meinen Vater, damit er mir diese dreht. Er kam ins Zimmer und ich hörte, wie er den Lichtschalter drückte. Ich fragte ihn: «Papa, weshalb machst du Licht an?» Da sagte er mir, dass er ohne Licht stolpern würde. Und ich antwortete: «Aber du kanns doch mit den Händen schauen?» In diesem Moment wurde mir zum allerersten Mal bewusst, dass andere Leute nicht mit ihren Händen, sondern mit ihren Augen die Welt wahrnehmen. Da wurde mir klar, dass meine Eltern sehend sind. Das fuhr mir ein. Vermutlich bedeutet mir aus diesem Grunde jene Musik – es waren Lieder aus der «Hänsel und Gretel»-Oper – heute besonders viel. Weil es die Musik gibt, weiss ich, was es heisst, Licht wahrzunehmen.
Viele Menschen sind zurückhaltend, wenn es darum geht, Personen auf ihre Beeinträchtigung anzusprechen. Wie gehen Sie damit um?
Ich finde die neugierige, ungehemmte Weise zu fragen die beste Art und mag es nicht, wenn man um den heissen Brei redet. Aber oft weiss ich nicht, was die Leute hören wollen: Möchten sie auf die körperlichen Aspekte, meine Augen zu sprechen kommen? Oder wollen sie wissen, wie das Leben mit Blindheit ist? Je nach Moment antworte ich dann so oder anders.
«Vieles, was auf mich als Blinde zutrifft, trifft auch auf Sehende zu.»
Wie leicht fällt es Ihnen, Hilfe anzunehmen – zuhause bei Haushaltstätigkeiten oder auch unterwegs?
Damit tue ich mich schwer. In gefährlichen oder schwierigen Situationen nehme ich selbstverständlich gerne Hilfe an. Dennoch habe ich oft das Gefühl: Es muss auch anders gehen. Aber ohne Hilfe käme ich schnell an meine Grenzen. Nur schon, wenn ich einen bekannten Weg gehe, brauche ich Konzentration. Bereits kleine Veränderungen bei routinierten Abläufen fordern mich. Kurz und gut: Ich lasse mir mehr helfen, als mir lieb ist. Aber wir leben nun mal in einer Welt der Sehenden. Und ich möchte ein einigermassen anständiges Erscheinungsbild abgeben – auch deshalb lasse ich Unterstützung zu.
«Ich lasse mir mehr helfen, als mir lieb ist. Aber wir leben nun mal in einer Welt der Sehenden.»
Welche Rolle spielt Struktur in Ihrem Alltag?
Sie ist sehr wichtig, – vielleicht auch zu wichtig. Gerade auch bei Dingen, bei denen es im Grunde keine Rolle spielt. Ich deponiere Sachen immer am gleichen Ort, esse sehr geregelt und ich schaue, dass ich regelmässig Sport mache. Struktur ist ein wichtiger Anhaltspunkt; wenn sie fehlt, bin ich schnell verunsichert. In alltäglichen Abläufen gewisse Reihenfolgen einzuhalten, hilft enorm.
Gibt es etwas, das Sie besser können als Menschen, die nicht blind sind?
Ich mag keine Verallgemeinerungen, kann und möchte nur für mich sprechen. Vieles, was auf mich als Blinde zutrifft, trifft auch auf Sehende zu. So sehe ich mich etwa als sensibler Mensch – aber es gibt auch Sehende, die sensibel sind. Weil mir das Augenlicht fehlt, verlasse ich mich mehr auf meine Intuition und Gefühl als meinen Kopf. Ob das aber mit meiner Blindheit zu tun hat, weiss ich nicht. So gibt es überall Kopf- und Bauchmenschen. Was ich vielleicht besser kann, ist das Brailleschrift (Blindenschrift, Anm. der Red.) lesen. Oder mich in beeinträchtigte Menschen hineinversetzen.
«Struktur ist ein wichtiger Anhaltspunkt; wenn sie fehlt, bin ich schnell verunsichert.»
Sie haben dieses Jahr Ihr Studium abgeschlossen und sind zurzeit auf Jobsuche. Was ist Ihre Traumstelle?
Mein Wunsch ist, bei einem deutschen Hörspielverlag zu arbeiten. Hörspiele haben für mich etwas Faszinierendes – sprachlich, akustisch, aber auch konzeptionell. Bei Drehbüchern für Hörspiele mitzuwirken, das wäre meine absolute Traumstelle.
Im Vorgespräch haben Sie gesagt, dass es Ihnen wichtig ist, öffentlich über Blindheit zu sprechen. Warum?
Zunächst, weil ich wichtig finde, dass man blinde Menschen nicht mit ihrer Blindheit gleichstellt. Ich bin Laura Kirschner, habe studiert, bin den Halbmarathon in Luzern gelaufen, musikalisch und habe Stärken und Schwächen. Ich habe viele Eigenschaften, die nichts mit Blindheit zu tun haben. Das zum einen. Und zum anderen finde ich es wichtig, über Blindheit aufzuklären; – auch, um einen guten und offenen Umgang mit sehbehinderten Personen zu finden. Ich möchte Einblick geben, aber nicht meine persönliche Blindheit ins Zentrum stellen: Wir Sehbehinderten sind mehr als unsere Blindheit.
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