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Weg und Ziel

Niklaus Kuster 21.11.2024

Wer am Ende des Lebens, nach vielen Erfahrungen, Freuden und Sorgen das Ziel erreicht, erlebt die Erfüllung aller Hoffnung. Daran glauben wir Christinnen und Christen.


«Alles hat seine Zeit», sagt der biblische Prediger im Buch Kohelet: Säen und Ernten, Arbeit und Ruhe, Freude und Sorge, Lachen und Weinen, Werden und Vergehen. Verträge, Abos, Akkus und Parkuhren haben ihre «Laufzeit», Nahrungsmittel ihre «Verfallzeit», und auch Jahre enden unhaltbar. Das Kirchenjahr schliesst den Kreis in den nächsten Tagen und endet an der Schwelle zum Advent. Die Lesungen in den Werktags- und Sonntagsgottesdiensten sprechen in den kommenden Novembertagen vom Weltende. Sie erinnern daran, dass wir als Individuen und die geschaffene Welt als Ganze vergänglich sind. «Unser Leben währt siebzig Jahre und wenn es hoch kommt, sind es achtzig», schrieb ein Psalmenbeter vor 2500 Jahren. Unsere Ernährung und die moderne Medizin können die «Deadline» zwar höher legen, doch wird die Lebenszeit dadurch nicht unendlich – auf Erden!

«Pilgernde und Gäste auf Erden»

Sowohl die jüdische Bibel wie das christliche Neue Testament nennen uns «Pilgernde und Gäste auf Erden». Das Pilgern ist kein zielloses Unterwegssein, sondern bringt Menschen einem verheissungsvollen Ort näher. Wer nach einem langen Weg, vielen Erfahrungen, Freuden und Sorgen das Ziel erreicht, fällt nicht in eine Leere, sondern erlebt die Erfüllung aller Hoffnung. Die Ankunft am Ziel wird zu einem Fest. Als einer meiner Mitbrüder vor zwanzig Jahren ins Sterben kam und ein paar Tage lang nicht mehr ansprechbar im Bett lag, besuchte ihn der Provinzial ein letztes Mal. Er setzte sich an sein Bett und sprach ihm Mut zu: «Bruder O., du wirst bald am Ziel aller Wege ankommen. Und so wie du gelebt hast, werden es wenige Schritte sein bis ins grosse Fest des Himmels. Wie oft hast du doch hoffnungsvoll über den Himmel gepredigt! Und wer dich dort alles erwartet! Du darfst dich freuen auf Gott, alle Heiligen und alle, die dir lieb sind und denen du in deinem langen Leben gutgetan hast!» Auf diesen Werbespot für den Himmel öffnete der Sterbende plötzlich die Augen, drehte den Kopf sanft zum Sprechenden und sagte mit feinem Lächeln: «Kommst du mit?»

Gott von Lebenden

Sterben bedeutet Abschied und Wiedersehen zugleich, das Zurücklassen der Lebenden und vereint werden mit den Vollendeten. Was tun all jene, die schon am Ziel sind, bis das grosse Fest in der Ewigkeit ganz beginnt? Origenes, einer der frühen Kirchenlehrer, deutet biblische Texte überaus hoffnungsvoll. Gott ist kein Gott von Toten, sondern von Lebenden, sagte schon Jesus. Wer im Haus des Vaters ankommt, wird da freudig empfangen, erzählt das Gleichnis der verlorenen Söhne. Sind alle angekommen, beginnt ein Hochzeitsfest ohne Ende. Doch dazu werden auch wir auf Erden erwartet, und bis die letzten Geladenen eintreffen, findet ein himmlischer Apéro statt. Die Gemeinschaft wird immer grösser. Schon der Apéro riche ist ein Genuss. Und doch halten die Feiernden Ausschau nach denen, die noch unterwegs sind, freuen sich über gute Schritte und bangen, wenn wir uns verirren. Origenes schliesst: «Auch du wirst auf andere warten, wenn du das Ziel erreicht hast, so wie du erwartet worden bist»!


Der Kapuziner Niklaus Kuster ist 2024 Gastautor. Er schreibt aus der Sicht eines Ordensmannes und Theologen für das Pfarreiblatt Sursee.


Bild: Marek Studzinski/Unsplah

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