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Wählen nach der Wahl

Anna Chudozilov 03.11.2023

Wir müssen uns immer wieder aktiv entscheiden, was wir tun und lassen.

Wahrscheinlich sind Sie längst wieder zum «courant normal» zurückgekehrt und fragen sich, warum um alles in der Welt ich jetzt noch über das Wählen schreibe. Wir haben doch gerade erst entschieden, wer unsere Interessen und Werte in Bern vertreten soll! Doch damit eine Demokratie funktioniert, braucht es mehr als alle paar Jahre einen Wahlkampf und dann den Urnengang. Wir müssen uns immer wieder aktiv entscheiden, was wir tun und lassen.


Das Rückgrat einer funktionierenden Demokratie sind gut informierte Bürgerinnen und Bürger. Es gilt, auf dem Laufenden zu bleiben. Zum Beispiel mit Blick auf die grossen Fragen unserer Zeit wie Klimawandel, Migration und Digitalisierung. Es reicht auch nicht, nur zu «wollen», dass die Krankenkassenprämien sinken. Wir müssen uns auch überlegen, worauf wir zu verzichten bereit sind – zum Beispiel darauf, dass in der Schweiz niemand wirklich weit zum nächsten Spital fahren muss. Ohne eine aktive Auseinandersetzung mit möglichen Lösungen kann es schnell passieren, dass wir eine Wahl aus Gewohnheit treffen, anstatt geleitet dadurch, welche Lösungen wir uns für konkrete Probleme wünschen.


Um informiert zu bleiben, müssen wir aus einer Flut von Nachrichten, Meinungen und Bildern immer wieder auswählen, wir müssen vergleichen und kritisch hinterfragen. Wer nur liest und sieht, was bestehende Überzeugungen bestätigt, läuft Gefahr, in sogenannten Echokammern den Bezug zur Realität zu verlieren. Um uns zu neuen Fragen eine Meinung bilden zu können und langjährige Einstellungen auch einmal zu überprüfen, müssen wir immer wieder bereit sein, uns mit neuem Wissen auseinanderzusetzen. Und dazu gehört auch, Menschen zuzuhören, deren Meinung wir nicht teilen.


So richtig bewusst wurde mir diese «Binsenweisheit», als ich kürzlich den Film «Die Arier» von Mo Asumang sah. Die afrodeutsche Journalistin macht sich auf die Suche nach dem Begriff «Arier». Dabei spricht sie nicht nur mit «echten Ariern», also Menschen, die im Iran leben oder Passanten in deutschen Innenstädten. Sie sucht auch das Gespräch mit Neonazis, die auf Demonstrationen lautstark ihre Parolen brüllen, sie trifft in den USA Mitglieder des Ku-Klux-Klans und einen Radiomann, der rassistische Hasstiraden ins Mikrofon bellt.


Es ist nicht so, dass die Filmemacherin Mo Asumang aufgrund dieser Gespräche ihre eigene Einstellung zu Rassismus überdenkt. Im Gegenteil. Und doch zeigt der Film eines sehr eindrücklich: Es ist unmöglich Hass aufrechtzuerhalten, wenn Menschen miteinander reden. Wenn zwei Menschen miteinander sprechen und sich dabei in die Augen schauen, können sie auf Dauer die Menschlichkeit des anderen nicht ignorieren. Und diese Entscheidung aktiv zu treffen, dem anderen immer wieder zuzuhören, ist zentral, wenn wir unsere Demokratie lebendig halten wollen. Wir müssen uns immer wieder für die Erkenntnis entscheiden, dass Menschen die eine andere Meinung vertreten (so falsch wir sie auch finden mögen), in erster Linie keine Gegner und Gegnerinnen sind, sondern Menschen wie wir.

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