Über die Landkarte hinaus
Mariann Bühler 05.02.2025

Was vorstellbar ist, verändert sich dauernd. Und wer sich über die Grenzen seiner Vorstellungen hinauswagt, lebt in einer grösseren Welt.
In meinem Roman verlässt Alois seinen Hof. Zu Fuss sucht er das Weite, kennt anfangs noch jeden Hof beim Namen. Dann geht er durch eine unbekannte Gegend und es kommt ihm vor, als sei er aus der Landkarte hinausgelaufen.
Mit unserer Vorstellungskraft ist es ähnlich: Wir bewegen uns darin wie in einem kartierten Gebiet. Darüber hinaus zu gelangen ist nicht einfach, doch die Möglichkeit, den Rahmen des Vorstellbaren zu sprengen, macht seit jeher Veränderung möglich.
Am Rande des Vorstellbaren
In meiner Lebenszeit haben Kassetten CDs Platz gemacht. Das Internet ist aufgetaucht, seine Möglichkeiten waren noch unvorstellbar – und nun ist ein Leben ohne nicht mehr denkbar. Davor gab es Zeiten, als es undenkbar war, keine Könige zu haben. Oder fliegen zu können. Wir stehen alle immer wieder am Rand des Vorstellbaren.
So sass ich neulich in einer Runde und wir diskutierten über Frauen, Männer, und alle, die sich weder in die eine noch die andere Schublade einordnen, die von sich sagen, dass sie nonbinär sind.
Wir kreuzen auf Formularen, meist ohne nachzudenken, das eine oder andere Kästchen an. Erst seit Kurzem taucht neben «m» und «w» manchmal noch ein «d» auf. Wie wäre das, wenn wir Geschlecht nicht als zwei begrenzte Kästchen, sondern als weitläufiges Gelände verstehen würden?
Wir haben an diesem Küchentisch über Sprache gesprochen und darüber, ob die Sprache das überhaupt kann, auf diese Einteilung verzichten. Im Englischen ist es leicht, aber auch das Deutsche kann das, es braucht nur ein bisschen Übung.
Ich habe von der Lesung von Selma Kay Matter erzählt, die ich im letzten Jahr moderiert habe. Das Buch mit dem Titel «Muskeln aus Plastik» war noch in Arbeit. Es geht um das verliebt sein, um das füreinander Sorgen, das Aneinandergeraten, das Reparieren von Freundschaften. Und es geht darin um Körper, die ihr Wohlbefinden dort finden, wo Geschlecht ein weitläufiges Gelände ist und nicht in zwei Kästchen passt.
Was die Welt grösser macht
Ich wusste, Selma Kay Matter ist nonbinär, ich wusste, ich muss mal das mit den Pronomen klären. Ich bin noch immer ungeübt darin. In meinem Umfeld kreuzen die meisten «m» oder «w» an.
Dann war alles einfach: Ich habe geschrieben, Hallo Selma Kay Matter, wir sprechen bald über deinen Text, ich bin Mariann. Wie soll ich dich ansprechen? Und Kay hat geantwortet: Nenn mich Kay, ohne Pronomen.
Von da an habe ich geschrieben: Hallo Kay. Manche schreiben auch Lieb – ohne -e oder -er. Oder einfach Guten Morgen, oder weichen aufs englische aus, dear, was so liebe- wie respektvoll ist. Wenn ich heute von der Lesung erzähle, sage ich: Ich habe mit Kay über das neue Buch gesprochen, über die Sprache, darüber, wie Kay schreibt.
Es braucht etwas mehr Konzentration, wenn ich über Kay spreche oder über Kim. Aber ich habe dazugelernt, meine Sprache ist um eine Möglichkeit reicher, die Welt genauer zu beschreiben.
Ich empfehle, an der Grenze des Vorstellbaren kurz innezuhalten, die Ängste, Widerstände und Fragen in Ruhe zu betrachten. Und dann beherzt einen Schritt über den Rand des bekannten Geländes hinaus zu machen. Die Welt wird grösser dadurch.
Mariann Bühler ist Autorin und Literaturvermittlerin. Sie schreibt 2025 als Gastautorin für das Pfarreiblatt Sursee.
Foto: CC0 Pixabay
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