Nicht daheim und doch zuhause
Rebekka Dahinden 20.05.2025

Nichts müssen, aber vieles dürfen: Orte, welche dies erlauben, sind bedeutsam – für uns persönlich, aber auch für unsere Gesellschaft.
Einfach sein dürfen
Die Kirche als Ort des Rückzugs und Ausgleichs – diese Erfahrung muss nicht an die Ferien gebunden sein. Auch im Alltag kann sie dafür Raum bieten. Die Kirche gilt als «Dritter Ort»; ein durch den US-Soziologen Ray Oldenburg geprägten Begriff für Räume, wo Menschen ungezwungen verweilen dürfen. In seinem 1989 verfassten Werk «The Great Good Place» spricht er von drei Bereichen, die für eine Gesellschaft relevant sind: Die Familie, die Arbeit – und ein Raum des Ausgleichs von beidem, der sogenannte «Dritte Ort». Gemeint sind damit Räume jenseits des Arbeitsplatzes und familiären Umfelds, wo Menschen sein dürfen, ohne etwas leisten zu müssen. Kulturhäuser oder Restaurants, Bibliotheken oder Pärke etwa gelten als Beispiele dafür.
Pause vom Alltag
Es sind acht Kriterien, mit denen sich Oldenburg dem annähert, was solche Orte ausmacht. So sollen sie allen offenstehen, neutral und idealerweise konsumfrei sein, weiter der gesellschaftliche Status keine Rolle spielen dürfen. Es sind Räume, in denen sich Menschen vom Alltag eine Pause nehmen: Sich entspannen, kreativ tätig sind, bekannte oder neue Leute treffen. Dabei geht es darum, sich beim spontanen Miteinander begegnen und austauschen zu können. Das fördert den Zusammenhalt, vermittelt das Gefühl dazuzugehören, und fühlt sich für die Anwesenden wie ein zweites Zuhause an.
Menschen miteinander verbinden
Solche Dritten Orte sind nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene bedeutsam. Besonders wertvoll sind sie für Menschen am Rande der Gesellschaft. Soziale Isolation betrifft besonders Menschen mit geringem Einkommen oder schwachem sozialen Rückhalt – etwa ältere, gesundheitlich beeinträchtigte oder arbeitslose Personen. Dabei ist Einsamkeit nicht nur ein individuelles Schicksal, sondern hat auch Auswirkungen auf unser Zusammenleben: Wer sich einsam fühlt, zieht sich häufig aus dem sozialen, gesellschaftlichen und politischen Leben zurück. Das Gefühl, nicht dazuzugehören, verstärkt sich; die Welt wirkt feindlicher, Mitmenschen erscheinen distanziert. Umso wichtiger sind darum Orte, die offen und einladend wirken, die verbinden statt trennen.
Ein Raum, wo man durchatmet und neue Energie für den Alltag tankt – und der bestenfalls nicht durch Umzug oder andere Wendungen im Leben verloren geht.
Erholen, durchatmen, Kraft schöpfen
Was die Idee des dritten Ortes begründet und mitunter auch sympathisch macht, ist die Überzeugung, dass solche Räume für das menschliche Wohlbefinden nicht nur förderlich, sondern unabdingbar sind. Der Mensch braucht Orte, wo keine Erwartungen erfüllt und Leistungen erbracht werden müssen, sondern man einfach sein darf.
Versteht man das Konzept etwas offener, zeigt sich, wie individuell und unspektakulär diese sein können: Für den einen mag es ein Sessel sein, für die andere ein Berg oder ein verstecktes Plätzchen im Wald. Ein Raum, wo man durchatmet und neue Energie für den Alltag tankt – und der bestenfalls nicht durch Umzug oder andere Wendungen im Leben verloren geht. Nicht zuletzt ist für viele Christinnen und Christen auch Gott ein dritter Ort, wo Geborgenheit und innere Ruhe zu finden sind. Zahlreiche biblische Texte unterstützen diese Vorstellung von einem Gott als Zufluchtsort. Sei es nun der Glaube, der Raum zum Innehalten bietet, oder ein realer Ort wie eine Parkbank, ein Café oder die alte Kirche im Urlaub. Dort, wo man einfach sein darf, erfüllt sich ein tiefes Bedürfnis vieler.
Foto: CC0 Krisztina Papp/unsplash.com
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