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Neuland wagen

Niklaus Kuster 04.07.2024

Die Sommerferien sind für viele Menschen eine willkommene Auszeit. Ob wir Neues oder Vertrautes suchen, ist von Mensch zu Mensch verschieden.

Ist Ihr Leben und Arbeiten routiniert? Dann verläuft es in bekannten Bahnen: Bewährte Strukturen und Abläufe, vertraute Handlungsweisen, ein reicher Erfahrungsschatz verleihen Klarheit im persönlichen Tun und im Zusammenspiel mit anderen. Im Wort routiniert steht «la route»: das französische Wort für Strasse, einen breiten Weg und eine sichere Bahn! Sie macht das Unterwegssein leichter und bequemer als ein Saumpfad, ein schmaler Waldweg oder unbekannte Routen durch Neuland. Und doch lohnt es sich, auch neue Wege zu wagen!

Vertrautes oder Neuland?
Einige lieben es, auch im Urlaub Vertrautes zu wiederholen: jedes Jahr die gleiche Feriendestination, derselbe Campingplatz, das vertraute Bergdorf, die geliebte Küste! Wiederholung kann entspannen und Vertiefung reizvoll sein! Andere wiederum erkunden gerne Neuland: eine noch unbekannte Region, eine fremde Kultur, andere Länder und Sitten. Wie die Wiederholung des Vertrauten hat auch das Erkunden neuer Welten Gleichnischarakter. Unser Leben kennt beide Erfahrungen. Wir bewegen uns in vertrauten Bahnen, was uns im Alltag viele Entscheidungen abnimmt. Zugleich fordern uns verschiedene Formen von Neuland: im Kleinen mit neuen Aufgaben, neuen Mitarbeitenden oder Nachbarinnen, neuen Teams, im Grösseren bei Wohnort- oder Jobwechseln, mit einem neuen Lebensabschnitt oder einer neuen Beziehung! Die einen brechen ungern und mühevoll ins Unbekannte auf, andere tun es freudig, neugierig und lustvoll.

Haltungen des modernen Unterwegsseins
Der Soziologe Zygmunt Baumann unterschied zwei Grundhaltungen im modernen Unterwegssein: die touristische und die vagabundierende. Der klassische Tourismus spiegelt die Konsumhaltung: Der Tourist wählt in Freiheit, wohin er gehen will, und bestimmt Reisemittel nach eigenem Geschmack. Die Touristin hat weder Lust noch Zeit, sich mit etwas abzugeben, das sie unnötig in die Pflicht nimmt, oder sich um die Probleme anderer zu kümmern. Die Welt lässt sich genießen – und es gilt, von ihren Angeboten zu profitieren. Vagabunden und Flüchtlinge wandern ohne die Wahlfreiheit, ihr Ziel zu bestimmen, von Verzweiflung getrieben und von der Not, ihr Überleben zu sichern. Ihr Geschick erinnert daran, dass die Welt kein selbstgemachtes Paradies ist, sondern dass das Prekäre hinter jeder Ecke steht. Auf der Flucht vor wirtschaftlicher oder politischer Not hoffen sie auf ein besseres Leben.

Eine dritte Grundhaltung wird im Pilgern erfahrbar: zu Fuß durchs Land ziehen, sich Wetter und Wegen aussetzen, auch vor Ungewissem nicht zurückschrecken, mit Freuden und Sorgen der Bevölkerung in Kontakt kommen und erfahren, dass das gemeinsame Ziel mit neuen Menschen verbindet. Leichtfüssig pilgert, wer unnötige Last ablegt und liebe Orte loslassen kann. Alle drei Grundhaltungen lassen sich auf das Alltagsleben beziehen: Maximiere ich den individuellen Genuss in Wohnen und Freizeitgestaltung? Werde ich in Neuland gezwungen? Bin ich pilgernd unterwegs, zielgerichtet, täglich gespannt auf Neuland, offen für Gefährtinnen, und gewillt, durch Auf und Ab unterwegs zu bleiben?

Niklaus Kuster

Der Kapuziner Niklaus Kuster ist 2024 Gastautor. Er schreibt aus der Sicht eines Ordensmannes und Theologen für das Pfarreiblatt Sursee.

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