Mitte und Rand
Niklaus Kuster 03.06.2024
Unabhängig von unseren Normen, Haltungen, Ansichten und persönlichen Perspektiven – es gibt Fragen im Leben, die zeitlos gültig bleiben. Ein Beispiel dafür: das Leben des Heiligen Franziskus.
Die Familie siedelt sich mitten im vitalen Städtchen an, am neuen Hauptplatz, der künftig die zentrale Bühne für das Leben bildet: gesellschaftlich und politisch, wirtschaftlich und kulturell! Welch ein Sprung ins Zentrum, welch ideale Ausgangslage für den Juniorchef des Handelshauses! Die Rede ist von Franz von Assisi. 800 Jahre sind es her, am Morgen der Moderne, die in Italien um 1200 anbricht und bis ins Heute spricht.
Zwei Jahre zuvor haben die Zerstörung der Stauferburg und ein Bürgerkrieg alles verändert: Ein Jahrhundert vor dem Rütlischwur schütteln italienische Städte die Fremdherrschaft ab, errichten demokratische Gemeindeordnungen und bestimmen ihr Schicksal fortan selber.
Die Familie Bernardone gehört der reichen Kaufmannszunft an. Sie investiert in mehrere Häuser und wohnt an der Piazza: da wo der Markt stattfindet, die Volksversammlung jährlich die Regierung wählt, kulturelle Events über die Bühne gehen, farbenfrohe Feste und feierliche Prozessionen zu sehen sind, Persönlichkeiten empfangen werden, über Krieg und Frieden bestimmt wird – und nächtliche Streiche für Unruhe sorgen. Franz ist der Sohn von Neureichen, die aus der Unterstadt aufstiegen, und er träumt von einem Palast in der adeligen Oberstadt: noch mehr Karriere!
Erfahrungen prägen und wandeln
Seine Träume werden zur Stolperfalle. Um Ritter zu werden, zieht der Zwanzigjährige in den Krieg. Dieser wird zum Debakel, führt in ein Jahr Kriegsgefangenschaft und in weitere Monate schwerer Krankheit. Nach zwei Jahren kommt der Modefachmann, noch wackelig auf den Beinen, auf die Piazza del Comune zurück – und erschrickt: Die Stadt hat ihre Farben verloren und das pralle Leben seinen Geschmack. Zunächst funktioniert der junge Mann weiter, macht wie zuvor Businesspläne und organisiert Feste. Seine innere Unruhe treibt ihn jedoch immer öfter vor die Mauern. Unterwegs dahin wird er aufmerksam auf die Arbeiterfamilien in den engen Gassen ganz unten, das Schicksal der Bettlerinnen an den Toren und die Randständigen ausserhalb der schützenden Mauern.
Der Weg hinaus eröffnet Franziskus neue Erfahrungen und Perspektiven. Unten am Fuss der Hügelstadt entdeckt er ein verlassenes Klösterchen. In seiner halbdunklen Krypta findet er Stille und zu sich selbst. Hier nimmt er seine Sehnsucht wahr und fasst sie in Worte. Da beginnt der bisher religiös Unmusikalische nach Gott zu fragen – und zu beten. Drei Kilometer weiter in der Ebene weckt die Begegnung mit Aussätzigen sein Herz: Der Mensch in Not, der seinen Weg kreuzt, wandelt den Egozentriker zum Mit-Menschen. Ebenfalls vor der Stadt überrascht ihn das zerfallende Kirchlein San Damiano mit einer Ikone, die dem Suchenden Gottes Zuwendung erfahrbar macht: am Weg, draussen vor der Stadt, am Rand.
Erfahrungen in einem mittelalterlichen Städtchen. Doch ihre grundlegenden Fragen bleiben zeitlos gültig: Wo finde ich in meine eigene Mitte? Wo lebe und erlebe ich Mit-Menschlichkeit? Und wo ist Gott mitten unter uns? All dies kann am Rand geschehen – oder mitten im städtischen Leben!
Der Kapuziner Niklaus Kuster ist 2024 Gastautor. Er schreibt aus der Sicht eines Ordensmannes und Theologen für das Surseer Pfarreiblatt.
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