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«Meinungsbildung ist ein dialogischer Prozess»

Interview: Rebekka Felder 05.09.2024

Der reale Austausch ist für die Meinungsbildung, aber auch die Entwicklung einer Diskussionskultur wichtig, sagt Giuseppe Corbino.

Neben dem privaten Umfeld gelten Medien als wichtige Informationsquelle für die Meinungsbildung. Was braucht es darüber hinaus, damit wir fähig sind, eine eigene Haltung zu entwickeln?

Neben den genannten Voraussetzungen braucht es einen bewussten und kritischen Umgang mit Informationen. Damit meine ich die Fähigkeit, die Quelle von Texten, Bild- und Videoinhalten auf ihre Vertrauenswürdigkeit hin zu überprüfen. Woher kommt die Meldung? Wie verlässlich ist deren Absender? Das hilft, die Nachricht einzuordnen. Weiter ist wichtig, dass man offen für den Austausch mit Andersdenkenden bleibt. Nicht nur auf Social Media und online in Diskussionsforen, sondern auch physisch. Wenn man gemeinsam an einem Tisch sitzt, diskutiert, die Reaktion des Gegenübers eins zu eins mitbekommt, hat dies auch Einfluss auf das eigene Denken und Verhalten.


Die Diskussion mit Andersdenkenden ermöglicht uns auch, den eigenen Standpunkt zu ändern. Aber einzugestehen, dass man falschliegt, gelingt oft nicht schmerzfrei. Warum tun wir uns schwer damit?

Niemand gibt gerne zu, dass er oder sie sich geirrt hat. Besonders dann, wenn dies in der Öffentlichkeit geschieht wie z. B. in der Politik. Falschliegen und Unwissen wird gemeinhin als Schwäche interpretiert. Ich persönlich sehe es allerdings umgekehrt: Wenn eine Person ihre Meinung ändern und Denkfehler eingestehen kann, wirkt sie auf mich stark. Ein wichtiger Punkt bleibt dabei oft unbebeachtet.


Und dieser wäre?

Ob eine Diskussion konstruktiv verläuft, hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, die Meinung von der Person zu trennen. Mit dem Bewusstsein dieses Unterschieds lässt sich eine sachliche Diskussion führen, die den Respekt vor dem Gegenüber und dessen Standpunkt gewährt. Wer Abstand von der eigenen Position nimmt, ist oftmals einsichtiger und kann leichter Versäumnisse einräumen.


Neben Medien tragen auch verschiedene Institutionen viel zur Meinungsbildung bei. Welche Rolle spielt dabei die Kirche?

Dazu möchte ich gerne eine Bibelstelle beiziehen. «Prüft alles und behaltet das Gute!» ermutigt Paulus im ersten Brief an die Thessalonicher. Ein Aufruf, sich offen einzulassen auf das, was einem begegnet, es zu prüfen und das Gute mitzunehmen. Die Aussage fordert auch die Kirche selbst heraus. Insofern kann sie eine Plattform bieten, Meinungen auszutauschen und eine eigene Position zu Glaubensfragen zu finden. Dabei ist das Schärfen der eigenen Position ein dialogischer Prozess – vom Religionsunterricht bis hin zur Erwachsenenbildung. Indem die Kirche den Menschen befähigt, nimmt sie ernst, dass er ein autonomes Wesen ist, und er – im Austausch mit der Aussenwelt – seine eigene Meinung bilden und weiterentwickeln kann.

Interview: Rebekka Felder


Giuseppe Corbino ist freischaffender Philosophe und Theologe. Er ist für die Erwachsenenbildung im Pastoralraum Region Sursee zuständig.

Erwachsenenbildung im Pastoralraum

Philosophische Gesprächsabende, Vorträge zu gesellschaftlichen Themen oder kreative Tätigkeiten – der Pastoralraum Region Sursee führt diverse Bildungsangebote für Erwachsene durch. Sie bieten die Möglichkeit, in unbekannte Themen abzutauchen, Fragen nachzuspüren und Kontakte zu knüpfen. Das Programm finden Sie hier.

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