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Lebensfreude als Widerstand

Mariann Bühler 02.06.2025

Ist es in Ordnung, sich dem guten Leben hinzugeben, während an anderen Orten Menschen leiden? Zwischen Lebensfreude und Verzweiflung beginnt die Suche nach Handlungsspielraum.

Am Wochenende hat mich das gute Leben wie einen Schnupfen erwischt: Ich war an ein Festival in einer schönen österreichischen Stadt eingeladen und hatte nicht nur Arbeit, sondern auch Zeit. Zeit, um zu flanieren, über den Stadthügel zu streifen, ein Stück Torte zu essen. Zeit auch, um Gespräche zu führen, Leute kennenzulernen, zu hören, wo sie herkommen, was sie umtreibt. 

Dieses gute Leben möchte man so schnell nicht wieder loswerden. Und doch kommen mir manchmal Zweifel: Ist es in Ordnung, dass ich mir die Sonne auf die Nase scheinen lasse, Kuchen esse und das Leben geniesse? Wäre es nicht sinnvoll, mich zu mässigen, mich frühzeitig vorzubereiten auf das, was bestimmt wieder kommt – das weniger gute Leben? 

 

Was tun mit der Verzweiflung

Wenn ich über meine Nasenspitze hinaus in die Welt schaue, wird es noch schwieriger: Darf ich das Leben geniessen, während gar nicht so weit weg Menschen hungern, Kinder sterben, Häuser, Strassen, Spitäler in Schutt und Asche liegen? Wenn ich bei diesen Gedanken verweile, rollt eine Welle von Verzweiflung und Ohnmacht an. Es wird mir schmerzlich bewusst: meine Möglichkeiten, die Welt zu verändern, sind begrenzt. Ich habe kaum etwas, das ich dem Unrecht, der Gewalt entgegensetzen kann. 

Verzweiflung lähmt, das habe ich kürzlich einigermassen verzweifelt versucht einer verzweifelnden Freundin zu sagen. Wir müssen uns wehren gegen die Verzweiflung, sie macht uns ohnmächtig. Aber wie, fragte die Freundin, was können wir tun? Ich stammelte etwas von, halt das tun, was wir können – weil wir nicht in einer Position sind, in der wir eigenhändig die Welt umkrempeln können.

Es ist mir in diesem Moment nicht gelungen, die Verzweiflung abzuschütteln. Ich habe etwas Ohnmacht mit nach Hause genommen, in den letzten Wochen in meinem Kopf gedreht und gewendet, besonders beim Zeitung lesen und Nachrichten hören. 

 

Polster gegen die Verzweiflung

Kürzlich habe ich dann ein Q&A mit der Primatenforscherin Jane Goodall gesehen. Eine junge Frau fragte sie, ob sie nicht verzweifle, ob allem, was in der Welt geschieht. Jane Goodall sagte, doch, dieses Gefühl kenne sie. Sie habe aber das Glück, an verschiedenen lokalen Initiativen beteiligt zu sein, dort mit Menschen zu arbeiten, die sich an dem Ort, wo sie sind mit dem, was sie haben und können, einsetzen für eine bessere Welt. Mit diesen Leuten zu arbeiten und das Wissen, dass es auf der ganzen Welt Menschen gibt, die sich gegen das Verzweifeln wehren und etwas tun, sei es noch so klein – das gebe ihr die Kraft und die Zuversicht, weiterzumachen.

Das leuchtet mir ein, machte mir Mut. Aber was ist es denn, was ich tun kann, vielleicht bereits tue? Gehört das Zuhören und der verzweifelten Freundin gut zureden dazu? Mit Menschen über einem Stück Kuchen ins Gespräch kommen, hören, was sie tun, damit sie nicht verzweifeln, damit ihr Leben ein gutes ist? Ich halte täglich Ausschau – und geniesse dabei immer wieder das Leben. Es ist wie ein zeitweiliges Polster gegen die Verzweiflung. Im guten Leben, im Genuss, in der Lebensfreude, liegt eine Kraft, die ich nicht unterschätzen möchte.

 

Mariann Bühler

Mariann Bühler ist Autorin und Literaturvermittlerin. Sie schreibt 2025 als Gastautorin für das Pfarreiblatt Sursee.

 

Bildquelle: CC0/unsplash.com

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