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Jetzt Vielfalt wählen

Anna Chudozilov 10.10.2023

Neben all den Plakaten am Strassenrand, den lächelnden Kandidatinnen an Balkongeländern und ihren Mitstreitern an Gartenzäunen nun noch eine Wahlempfehlung auf der Website der Pfarrei? Keine Angst …

Neben all den Plakaten am Strassenrand, den lächelnden Kandidatinnen an Balkongeländern und ihren Mitstreitern an Gartenzäunen nun noch eine Wahlempfehlung auf der Website der Pfarrei? Keine Angst, ich will Ihnen niemanden schmackhaft machen oder von der Wahl einer bestimmten Person abraten. Nicht zuletzt, weil das Bundesgericht 1991 entschieden hat, dass die Wahlempfehlung des «Kirchenboten für den Kanton Zürich» sowohl aus kirchenrechtlicher als auch aus weltlicher Sicht «fragwürdig» war. Was für den Kirchenboten galt, gilt zweifellos auch für das Pfarreiblatt.


Natürlich mache ich mir ohnehin keine Illusionen, dass meine Empfehlung die Wahl grundsätzlich beeinflussen könnte. Schliesslich hat auch das Gericht bereits 1991 festgestellt, dass der damals in den Zürcher Regierungsrat gewählte Moritz Leuenberger den knapp nicht gewählten Ueli Maurer wohl kaum wegen des Berichts im Kirchenboten hatte ausstechen können. Tatsächlich schafften es einige Jahre später beide in den Bundesrat – aber das ist nur eine interessante Anekdote. Und hier geht es nicht um Histörchen, sondern um meine Wahlempfehlung. Selbst wenn diese nicht mehr bewirken wird als damals der Artikel im Kirchenboten.


Und doch: Wenn ich an dieser Stelle immer wieder für mehr Vielfalt im Alltag geworben habe, dann ist es nur konsequent, dies auch mit Blick auf die anstehenden Wahlen zu tun. Schliesslich ist in unserer halbdirekten Demokratie mit dem Parlament auch ein wichtiges Element einer repräsentativen Demokratie von zentraler Bedeutung. Und repräsentativ soll ja heissen, dass sich die Bevölkerung zumindest ein Stück weit im Parlament widerspiegelt. Tatsächlich aber ist unser Parlament im Durchschnitt rund zehn Jahre zu alt (die unter 40-Jährigen sind zusammen mit den über 70-Jährigen am schlechtesten vertreten, wobei mir die Untervertretung der Seniorinnen weniger gravierend scheint als jene der Menschen, die am längsten von den heute getroffenen Entscheidungen betroffen sein werden). Überrepräsentiert sind nach wie vor Männer, aber auch: Hochschulabsolventinnen, Landwirte, Unternehmerinnen und Freiberufler. Dies kann dazu führen, dass wichtige Perspektiven auf die Fragen unserer Zeit bei Entscheidungen fehlen – und wir uns entsprechend schlecht vertreten sehen und mehr Mühe haben, Beschlüsse zu akzeptieren.


Wie wichtig «Repräsentation» ist, scheint sich inzwischen bis nach Rom herumgesprochen zu haben. So debattieren bei der derzeit laufenden «Weltsynode» nicht mehr wie bisher bloss Bischöfe, auch Ordensfrauen, Laien und Priester dürfen mitreden und sogar abstimmen. Unter den 365 Stimmberechtigten sind immerhin 54 Frauen. Auch wenn das noch weit entfernt ist von einer ordentlichen Repräsentation der 2,26 Milliarden Christinnen und Christen weltweit, freue ich mich, dass sogar der Papst sich für mehr Vielfalt entschieden hat bei der Besetzung des Gremiums, das ihm Empfehlung zu möglichen Reformen machen soll. Wenn selbst Rom auf mehr Vielfalt setzt, kann meine Wahlempfehlung nicht wirklich falsch sein.



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