Jedem seine Zeit
Rebekka Dahinden 30.11.2025
Geduld zu üben stärkt uns und unser Miteinander.
Ungeduldig – wer sich so beschreibt, tut das häufig, wenn von persönlichen Schwächen die Rede ist. Doch diese Zuschreibung scheint nur auf den ersten Blick negativ zu sein. Wer ungeduldig ist, gilt heute oft nicht mehr als schwierig, sondern als Macher: als jemand, der nicht abwartet, sondern anpackt und Dinge vorantreibt. Dabei erscheint der Geduldige nebenan schnell einmal als träge, unentschlossen oder einfach zu langsam.
Geduld ist die Fähigkeit, warten zu können. Doch wir leben in einer Zeit, in der jede Minute als wertvoll gilt; als Ressource, die man effizient nutzen muss. Warten, so der Soziologe Andreas Göttlich, erscheint da als ungenutzte Zeit. Der Wissenschaftler der Universität Konstanz forscht zum Thema Warten. Er weist darauf hin, dass wir uns im Alltag zeitlich häufig mit anderen Menschen und vorgegebenen Abläufen abgleichen müssen – ein Prozess, der modernen Menschen schwerfällt. Dies, weil wir uns primär an unserer Eigenzeit orientieren und uns nur ungern dem Rhythmus anderer fügen.
Lebensprozesse brauchen Zeit
Auch die Salvatorianerin, Philosophin und Autorin Melanie Wolfers weist auf den je eigenen Rhythmus jedes Menschen hin: Jede und jeder habe eine eigene Zeit, um Entscheidungen zu treffen, zu lernen und zu handeln. Auch wer Angst hat oder wütend oder traurig ist, braucht einen Moment, um diese Gefühle zu verarbeiten. Reifungs- und Wachstumsprozesse verlaufen bei jedem Menschen unterschiedlich, betont die Ordensfrau. Umso wichtiger sei es, einander die dafür notwendige Zeit zuzugestehen.
Wartezeiten auszuhalten mag schwierig sein – und ist doch entscheidend. Denn Druck im falschen Moment kann Ungutes auslösen: «Ungeduld ist Gewalt auf der Ebene der Zeit», sagt Wolfers. Wer einer anderen Person ihre Eigenzeit nicht lässt, sondern Entscheidungen erzwingt, mutet ihr etwas zu, das noch nicht reif ist. Das belastet Beziehungen.
Wer seinen Mitmenschen Geduld entgegenbringt, zeigt Wertschätzung und Mitgefühl.
Wie bedeutsam diese Eigenzeit ist, zeigt sich auch in vielen Alltagssituationen: Eltern warten, während Kinder lernen, sich selbst anzuziehen. Lehrpersonen erklären so lange, bis Lernende verstehen. Angehörige trauern in ihrem Tempo. Geschwister warten, bis ihre betagten Eltern im Alltag Unterstützung zulassen. Und Verlassene nehmen sich ihre Zeit, bis sie bereit für eine neue Beziehung sind.
Geduld ist eine Haltung
Doch Geduld ist eine aktive Haltung, die man üben kann, davon ist Melanie Wolfers überzeugt. Wer das möchte, dem empfiehlt sie, aufmerksam auf die Situationen und Einflüsse zu achten, in denen man zu Ungeduld neigt. Ausserdem sei es wichtig, sich bewusst mit der eigenen Zeit und dem persönlichen Rhythmus auseinanderzusetzen. Denn wer Geduld mit sich selbst übt, stärkt damit seine innere Kraft und sein Durchhaltevermögen – und wer sie anderen entgegenbringt, zeigt Wertschätzung und Mitgefühl. Für den ägyptischen Theologen Adel Bestavros reicht dieses Prinzip gar weit über das Zwischenmenschliche hinaus. Er sagt: «Geduld mit anderen ist Liebe, Geduld mit sich selbst ist Hoffnung, Geduld mit Gott ist Glaube.»
(Foto: CC0 Tran/pexels.com)
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