Jahre später
Mariann Bühler 07.12.2025
Morgens um acht sass ich diese Woche in einem Schulzimmer und nippte am Kaffee. Vor mir sassen zwei Dutzend junge Menschen, die sich im Gegensatz zu mir gewohnt waren, um diese Zeit wach zu sein.
ch bin kein Morgenmensch. Wahrscheinlich hat meine Berufswahl auch damit zu tun: Im Kulturbetrieb dauert der Arbeitstag gelegentlich bis abends um elf, vor neun will aber niemand etwas von mir. Das passt zu meiner inneren Uhr.
Vor fünfundzwanzig Jahren sass ich wie die jungen Menschen vor mir morgens um acht im Schulzimmer, hatte davor wahrscheinlich im letzten Augenblick den Bus erwischt. Und konnte mir meinen heutigen Beruf noch gar nicht vorstellen.
Ich nahm einen grossen Schluck Kaffee und las den Schülerinnen und Schülern aus meinem Buch vor. Rasch entwickelte sich danach ein Gespräch über den Text, und bald kamen auch Fragen, wie das denn geht, Autorin werden. Ich erzählte ihnen von meinem Studium, von meiner Arbeit am Literaturhaus, wo ich vielen Autorinnen und Autoren zugehört habe, wie sie über ihre Arbeit sprachen. Ich erklärte ihnen, dass man literarisches Schreiben auch studieren kann.
Was möglich wird
Ich erzählte ihnen nicht, dass ich selbst vor über fünfundzwanzig Jahren in einer Aula einem Autor zuhörte. Dieses Erlebnis löste eine Verschiebung aus, deren Tragweite mir erst viel später klar wurde: Zum ersten Mal sass ich im gleichen Raum wie ein Mensch, der ein Buch geschrieben hatte. Kurz zuvor hatte ich dieses Buch gelesen; das erste erwachsene Buch, wie ich damals fand: Nichts war für Jugendliche vereinfacht, nichts Schwieriges weggelassen, die ganze Welt wurde mir zugemutet.
Diese eine Stunde in der Aula rückte eine neue Vorstellung in den Bereich des Möglichen: Wenn der Autor dieses Buches in der gleichen Welt existierte wie ich, im gleichen Raum war wie ich, ich mit ihm sogar sprechen könnte, wenn ich mich denn traute – wäre es da nicht umgekehrt grundsätzlich möglich, dass auch ich ein Buch schreiben könnte?
Es dauerte mehr als fünfundzwanzig Jahre, bis mein erstes Buch erschien. Die Erinnerung an die Lesung in der Aula war inzwischen verwaschen, ich hatte nur noch eine leise Ahnung, dass der Autor Klaus Merz gewesen sein könnte. Seinen grossen, aber schmalen Roman «Jakob schläft» hatten wir damals in der Schule gelesen, aber ich war mir nicht sicher.
Eine aufgefrischte Erinnerung
Dieses Jahr war ich an ein Festival eingeladen, an das auch Klaus Merz eingeladen war. Diese Gelegenheit liess ich mir nicht entgehen: Ich fragte ihn, ob er sich an eine Lesung an meiner Schule erinnere, ich nannte ungefähre Jahreszahlen, beschrieb den Ort und das Gebäude. Und er erinnerte sich, viele Jahre später, dass er tatsächlich in dieser Aula gelesen hatte. Ich konnte meine verwaschene Erinnerung mit seiner Erinnerung kräftig einfärben. Und natürlich erzählte ich ihm, was seine Lesung bewirkt hatte.
Ein bisschen hoffe ich, dass auch mich in zehn, zwanzig oder dreissig Jahren eine Autorin fragt, ob ich 2025 einmal morgens um acht in einem Schulzimmer gelesen hätte, sie hätte da eine unscharfe Erinnerung. Ich habe versucht, mir die Gesichter vor mir einzuprägen, oder zumindest den Raum, die Stimmung, damit ich mich hoffentlich erinnere.
Mariann Bühler ist Autorin und Literaturvermittlerin. Sie schreibt 2025 als Gastautorin für das Pfarreiblatt Sursee.
(Foto: CC0 Eliott Reyna/unsplash.com)
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