Geschwister – Freunde – Gefährtinnen
Niklaus Kuster 22.05.2024
Unser gemeinsames Unterwegssein kennt verschiedene Formen. Was uns alle aber verbindet, ist die Suche nach tiefster Weisheit.
Es war ein denkwürdiger Abend in der jährlichen «Woche der Religionen». Die Feier bezog über die jüdische, christliche und islamische Gemeinschaft hinaus auch die hinduistische ein. Lesungen aus den heiligen Schriften der vier Religionen wechselten mit Gebeten und Musik aus jeder Glaubenstradition.
Der erste Teil der Feier stand im Zeichen der Geschwisterlichkeit. Ob Jahwe oder Abba, Allah oder Krishna: Die heiligen Bücher unterstreichen die gemeinsame Überzeugung, dass alle Menschen denselben göttlichen Ursprung haben. So sagt Krishna in der Bhagavad Gita: «Ich bin der Vater aller Lebewesen» (Bg 14.4). Es gibt verschiedene Religionen, doch nur eine Menschheit, viele Heilswege, doch nur ein Ziel, viele Formen der Inspiration, doch nur eine tiefste Weisheit. Geschwister sind wir, einander in einer universalen Familie gegeben und nicht ausgewählt. Glücklich, wenn Geschwister einander bereichern und sich nicht das Leben schwer machen: Sie wachsen und reifen aneinander – und sie lassen einander ihre je eigenen Wege gehen!
Freunde teilen Herzensanliegen
Der zweite Teil der Feier vertiefte sich in das Motiv der Freundschaft. Die Mitfeiernden waren eingeladen, eigene Erfahrungen wachzurufen. Während Geschwister einander gegeben sind, finden sich Freundinnen und Freunde. Nicht die Herkunft begründet ihr Miteinander, sondern gemeinsame Erfahrungen und Interessen. Befreundete sind miteinander vertraut geworden und teilen Herzensanliegen. Die jüdische Bibel und der Koran nennen Abraham einen Freund Gottes: Lange Jahre an die Gottheiten Mesopotamiens glaubend, lernt er den einen Gott kennen, der ihm und seiner Frau Sara Zukunft eröffnet.
Im Neuen Testament lehrt Jesus seine Jüngerinnen und Jünger eine Freundschaft und Freiheit, die in Gott gründet. Sure 5 spricht im Koran von einem freundschaftlichen Wetteifer zwischen den Religionen: «Hätte Gott gewollt, er hätte euch zu einer einzigen Gemeinde [Glaubender] gemacht – doch wollte er euch mit dem prüfen, was er euch anvertraute. Wetteifert darum um das Gute!» Der Prophet Mohammad sagt in einem Hadis: «Gott ist euch Freund und er mag es, wenn Ihr Freundschaften schliesst und dazu ermutigt!»
Religionen als Weggefährten
Freundschaften setzen kein gemeinsames Leben voraus. Es gibt gute Freundinnen, die ich in zeitlichen Abständen treffe und mit denen ich doch intensiv teile. Der dritte Teil der interreligiösen Feier vertiefte sich daher in eine dritte Form von Miteinander: Weggefährtenschaft! Sie ist reicher als Freundschaft – und herausfordernder: den Alltag teilen, durch tägliche Freuden und Sorgen gehen, Lebenswelt gestalten! Pilgernde, die einen langen Weg gemeinsam gehen, sind in allen Religionen ein Bild dafür.
Dem Friedensgebet der Religionen, das 2011 in Assisi stattfand, gab Benedikt XVI. 2011 folgendes Motto: Alle Kirchen und Religionen sind «Pilgernde zu Wahrheit und Frieden». Keine besitzt die Wahrheit bereits, alle suchen die tiefste und grösste Wahrheit. Und pilgernd sind Religionen und Religiöse nicht Feinde, sondern Gefährtinnen, die einander ermutigen können!
Der Kapuziner Niklaus Kuster ist 2024 Gastautor. Er schreibt aus der Sicht eines Ordensmannes und Theologen für das Surseer Pfarreiblatt.
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