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Gemeinschaft als Balanceakt

Giuseppe Corbino 06.05.2024

Der Mensch sucht nach Gemeinschaft und Anerkennung, braucht aber auch die Möglichkeit zur Abgrenzung und Individualität.

Der Mensch ist ein soziales Wesen, d. h. er ist auf das Zusammenleben mit anderen angewiesen. Um sein Überleben zu sichern, kann er nicht darauf verzichten, mit anderen zu kooperieren. Am sichtbarsten wird dieses Angewiesensein bei Säuglingen oder Kleinkindern. Ohne die Fürsorge der Eltern oder anderer Bezugspersonen würden sie sowohl physisch wie auch psychisch und emotional verkümmern.

Aber auch im Erwachsenenalter merken wir, dass wir auf Gemeinschaft nicht gänzlich verzichten können. Der Austausch mit anderen bereichert uns – wir können dadurch unsere Freuden und Leiden mit anderen teilen. Wir merken, wie sinnstiftend es sein kann, wenn wir für andere da sind. Das Sprichwort «Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt», scheint wesentliche Aspekte unseres menschlichen Daseins nicht zu berücksichtigen.


Die Enge der Gemeinschaft

Und doch kann Gemeinschaft auch einengend sein. Sie ist mit Erwartungen, Pflichten und Vorstellungen verknüpft, die den Spielraum unserer Freiheit und unserer Individualität einschränken. Verschiedene Reaktionen darauf sind denkbar: Man kann sich dagegen wehren und versuchen, trotz allem den eigenen Weg zu gehen, ungeachtet, was die anderen denken und fühlen.

Wir merken, wie sinnstiftend es sein kann, wenn wir für andere da sind.


Exemplarisch wird eine solche Situation in der biblischen Geschichte vom verlorenen Sohn dargestellt. Eingeengt durch sein Umfeld verlässt der jüngere Sohn sein Zuhause und zieht in die weite Welt hinaus. Eine andere Möglichkeit ist, dass man sich den Gegebenheiten anpasst, weil es bequemer ist. Man will schliesslich nicht anecken. Im Extremfall kann ein solches Verhalten so weit führen, dass wir uns selbst verlieren, im Konformismus als eigenständige Personen nicht mehr wiederzuerkennen sind.

Balance setzt voraus, dass wir unsere Bedürfnisse, Wünsche und Visionen kennen.


Ein Balanceakt

Wie bei vielem in unserem Leben ist die Balance oder das richtige Mass entscheidend. Ein Leben, das ganz in gesellschaftlichen Erwartungen aufgeht, verleugnet die eigene Individualität. Wer sich hingegen wenig um gesellschaftliche Konventionen und Rücksichten schert, wird seine Individualität auf Kosten anderer ausleben.

Ganz einfach ist eine solche Balance nicht zu finden. Sie setzt voraus, dass wir unsere Bedürfnisse, Wünsche und Visionen kennen. Für uns immer wieder die Frage beantworten: Wofür schlägt mein Herz, was macht mich in meiner Individualität aus? Zum anderen ist die Einsicht wichtig, dass wir, wie bereits ausgeführt, soziale Wesen sind. Wir sind auf andere und andere sind auf uns angewiesen – sei es in Familie, Freundschaft, Beruf oder Freiwilligenarbeit. Will Zusammenleben, ja Menschsein gelingen, so ist dieser Balanceakt unverzichtbar und eine lebenslange Aufgabe. Vielleicht ist die Rückkehr des verlorenen Sohnes ein erster Schritt in Richtung einer solchen Balance.

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