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Geheimnisse in unseren Köpfen

Anna Chudozilov 10.11.2023

Ein digitales Hirn zu schaffen, das funktioniert wie ein menschliches? Davon ist die Forschung noch weit entfernt.

Das «Human Brain Project» sorgte bei seinem Start für viel Aufsehen: Rund 500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bekamen 600 Millionen Euro und zehn Jahre Zeit, um das menschliche Gehirn mit Hilfe von Computern vollständig zu simulieren. Im September dieses Jahres ist nun am Ende dieser Dekade klar geworden: Das ambitionierte Ziel konnte nicht erreicht werden. Es gibt zwar durchaus Erfolgsgeschichten zu erzählen: So berichtet die SRF-Journalistin Nicole Friedli in einer Reportage zum Thema, dass neue Behandlungsmethoden für Epilepsie entwickelt worden sind und an einer Art Hirnprothese gearbeitet wird, die blinde Menschen wieder sehen lassen soll. Aber ein digitales Hirn zu schaffen, das funktioniert wie ein menschliches? Davon ist die Forschung noch weit entfernt.

Uns ähnlich

Seit September beschäftige ich mich derweilen mit meinem eigenen, winzigen Forschungsunterfangen. Im November unterrichte ich an der Hochschule der Künste Bern nämlich ein Seminar, in dem wir uns mit künstlicher Intelligenz befassen. Die Kunststudierenden und ich – wir haben keine Ahnung, wie man ein digitales Hirn bauen könnte. Aber wir lesen Bücher und schauen Serien und Filme und versuchen dabei herauszufinden, wie in der Kunst «Behälter» gestaltet werden für künstliche Intelligenzen.

Manche dieser «Behälter» sind bloss Datenwolken oder Festplatten auf Computern. Die allermeisten aber erinnern stark an menschliche Körper: Sie haben einen Kopf, an dem Sensoren montiert sind, die ihre Umgebung wahrnehmen. Augen und Ohren sind das quasi und oft gibt’s auch einen Lautsprecher, der an einen Mund erinnert. Sie haben Arme und Hände, die Dinge greifen können, sie haben Beine, die für Bewegung sorgen. Offenbar neigen wir Menschen dazu, uns künstliche Intelligenz in Körpern vorzustellen, die unserem eigenen sehr ähnlich sind. Gemeinsam ist den meisten dieser Körper, die wir aus Film und Fernsehen kennen: Sie sind entweder einer Frau oder einem Mann nachempfunden und wirken fast immer wie relativ junge Menschen.

Nach seinem Bild

Unweigerlich musste ich da oft an einen dieser ersten Sätze aus dem Alten Testament denken, der fast allen geläufig ist: Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn (1. Mose 1,27). Lange dachte ich, das bedeute, Gott habe seinen Körper zum Vorbild genommen, als er die ersten Menschen formte. So wie uns Menschen unser Körper Vorbild ist, wenn wir eine künstliche Lebensform zu schaffen versuchen – ob nun als Künstler auf der Leinwand oder Wissenschaftlerinnen im Labor. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr zweifle ich, dass sich dieses Bild – in manchen Übersetzungen ist auch von Ebenbild oder Abbild die Rede – auf etwas Sichtbares bezieht. Wenn wir Menschen überlegen, was uns allen gemeinsam ist, sollten wir uns wohl weniger auf unsere Körper konzentrieren. Womöglich hat das Göttliche an uns nämlich rein gar nichts damit zu tun. Und vielleicht ist auch das der Grund dafür, dass 500 Forschende, 600 Millionen Euro und 10 Jahre Zeit nicht reichen, um die Geheimnisse in unseren Köpfen zu entschlüsseln.

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