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Gedenken auf dem (virtuellen) Friedhof

Rebekka Felder 06.11.2024

Der Gang auf den Friedhof – oder der Mausklick ins Netz: Trauerbewältigung nimmt heute unterschiedlichste Formen an.

Ein trüber Morgen im Oktober. Es sind nicht viele Leute auf dem Surseer Friedhof Dägerstein anzutreffen. Friedhofsgärtner arbeiten an Gräbern und bereiten sie vor für den nahenden November. Dieser gilt, nicht nur in christlichen Kulturkreisen, als Monat des Todes und der Trauer. Viele Angehörige gehen dann auf den Friedhof, bringen Blumen, entzünden Kerzen und weilen einen Moment am Grab ihrer lieben Verstorbenen.

Eine ältere Dame schliesst das Friedhofstor hinter sich und spaziert auf dem Kiesweg in Richtung Gemeinschaftsgrab. Sie kommt regelmässig zum Friedhof, um dort das Grab ihres verstorbenen Ehemannes zu besuchen. Das Grab an sich, so sagt sie, sei ihr nicht so wichtig. «Aber es ist ein Ort, an dem ich gut gemeinsamen Erinnerungen nachgehen kann.» Sie sitze dann still für sich auf dem Bänkli neben dem Grab. Ihren Gedanken nachgehend, fühle sie sich mit ihrem Ehemann verbunden.


Gedenkstätte im Netz

Wenn ein Mensch aus dem Leben scheidet, bleiben Familie und Freunde mit Fragen und Trauer zurück. Die Erinnerung an die verstorbene Person achtsam zu gestalten, wie etwa mit dem Gang auf den Friedhof, kann beim Trauerprozess hilfreich sein. Nunmehr gibt es dafür auch digital verschiedenste Optionen, zumal sich inzwischen auch das Internet zu einem Ort des Totengedenkens entwickelt hat: Auf sogenannten Trauerportalen können Gedenkseiten für Verstorbene angelegt, imaginäre Kerzen entzündet, Blumen niedergelegt oder Trauerbotschaften hinterlassen werden. Viele solcher Gedenkseiten ähneln Profilen von Sozialen Medien. Bilder, Videos oder Musikstücke werden ebenso hochgeladen wie Traueranzeigen oder Termine von Abschiedsfeierlichkeiten. Damit sind Trauerportale virtuelle Friedhöfe, die es möglich machen, jederzeit und von überall auf der Welt von einer Person Abschied zu nehmen, ohne selbst vor Ort zu sein.


Danken, erinnern, trösten

Tatsächlich lassen die vielen Einträge auf Trauerportalen erahnen, welchen Wert den Plattformen zukommt angesichts der Tatsache, wie tabuisiert Tod und Trauer in unserer Gesellschaft teilweise heute noch sind. Sie helfen Trauernden, die mit der Situation überfordert oder unsicher sind, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden. Denn manches lässt sich einfacher mit Musik, Bilder oder Texten ausdrücken, als es sich sagen lässt. Damit bieten Portale auf niederschwellige Weise Hand, Gefühle auszudrücken oder jemandem sein Beileid zu bekunden.

Vieles, was man auf diesen digitalen Erinnerungsstätten sieht, bewegt. Liebevoll wird Grosseltern und Eltern gedacht. Kindern, die zu früh gestorben sind; Freunden, Geschwistern und Ehepartnern, die wegen Krankheit oder eines Unfalls ihr Leben verloren haben. «Die Zeit vergeht, die Sehnsucht bleibt … Du fehlst immer und überall. In Liebe, deine Mama», liest man da. Oder: Gestern habe ich mir einmal erlaubt, deine Lieblingsserie zu sehen. (…). Habe dich immer im Herzen. (…) Bis morgen, (…).»

«Der Friedhof ist ein Ort, an dem ich gut gemeinsamen Erinnerungen nachgehen kann.»


Manche richten ihre Worte direkt an Verstorbene, andere Schreibende verfassen ihre Beiträge als Nachruf. Neben persönlichen Einträgen von Hinterbliebenen – unterschiedlich wortreich, oft journalartig und über eine längere Zeit hinweg entstanden – findet man auch Beileidsbekundungen von Unbeteiligten, die vom Fall berührt sind. Es wird gedankt, erinnert, sinniert, geklagt, erzählt, gefragt und getröstet.


Neue Ausdrucksmöglichkeiten

Dass digitale Form von Trauerbewältigung einem grossen Teil der Hinterbliebenen entgegenkommen, bestätigen auch Studien des Forschungsschwerpunkts «Digital Religion(s)» der Universität Zürich. Viele Menschen sind mit den digitalen Möglichkeiten vertraut und schätzen, dass damit eine gewisse Unabhängigkeit gewahrt wird. Diese Art von Verlustverarbeitung kann einfacher in den Alltag integriert werden als der Gang zum Friedhof, der Zeit und Präsenz vor Ort voraussetzt. Durch die Möglichkeit des digitalen Trauerns verändert sich auch für die Hinterbliebenen vieles: Indem sie für ihre Verstorbenen Gedenkseiten anlegen und pflegen, legen sie nicht nur ihre Beziehung zum Verstorbenen offen, sondern sorgen auch dafür, dass die Person in ihrem Leben gegenwärtig bleibt. Ob diese langandauernde, intensive Form der digitalen Trauer die Angehörigen nicht hindert, mit dem Tod eines geliebten Menschen abzuschliessen, – darüber sind sich Fachpersonen uneinig. Deutlich wird allerdings, dass mit dem Aufkommen digitaler Trauerportale (oder entsprechend umgenutzten Social-Media-Profilen) sich neue Ausdrucksmöglichkeiten für Trauernde ergeben: Die Gedenkseiten sind überall und jederzeit verfügbar, für enge Angehörige wie Fremde zugänglich und decken unterschiedlichste Bedürfnisse der Trauerverarbeitung ab. Dabei sind die Plattformen aber weniger als Ersatz für eine reale Auseinandersetzung mit Verlust zu verstehen. Vielmehr bilden sie ein ergänzendes Angebot für Trauernde in einer zunehmend mobilen Gesellschaft.


Mitgefühl oder Selbstinszenierung?

Was hinzukommt: Bei einzelnen Todesfällen oder Vorkommnissen, bei denen viele Menschen ihr Leben verlieren – etwa bei Attentaten oder Naturkatastrophen – können sich bisher nicht bekannte Menschen gegenseitig beruhigen, trösten und Mut zusprechen. Womit gemäss der Studie auch eine wichtige Ursache für die Nutzung digitaler Trauerangebote benannt ist: Man kommt in Kontakt und teilt Gefühle mit Menschen, die Ähnliches erlebt haben oder Gleiches empfinden. Der partizipative Charakter des Internets – alle können sich einbringen – vermittelt zugleich das Gefühl der Gemeinschaft und gegenseitige Verbundenheit. Wobei an solchen massenmedialen Beileidsbekundungen aber immer wieder Kritik laut wird, dass die geteilten Beiträge mehr der Selbstinszenierung denn der Solidaritätsbezeugung dienen. Allgemein hat die zunehmende Abwanderung des Totengedenkens ins Internet dazu geführt, dass Fragen rund um Tod und Trauer mehr und kontroverser in der Öffentlichkeit diskutiert werden als noch zu analogen Zeiten.


Wunsch nach Verbundenheit

Zurück zum realen Friedhof Dägerstein. Was sie persönlich mit der Ruhestätte verbinde, kann die Besucherin leicht benennen: «Für mich ist es ein spezieller Ort, selbst wenn ich nicht viele Personen kenne, die hier begraben sind. Hier ist es besinnlich, still; man wird zum Nachdenken angeregt.» Aneinander zu denken und füreinander zu beten, dazu lade aus ihrer Sicht der Friedhof ein. Sie kommt auf den Glauben zu sprechen, denn dieser hat für sie genau damit zu tun: «Gemeinsam zu vertrauen, dass etwas gut kommt, und in Gedanken und im Gebet miteinander verbunden sein.»

Die individuellen Bedürfnisse trauernder Menschen einen sich offenbar im Wunsch, Verbundenheit zu spüren. Sei es durch den Friedhofsbesuch, der anregt, Erinnerungen nachzugehen und sich in Gedanken mit Mitmenschen zu verbinden. Oder digital im Austausch mit Trauernden, die zwar fremde, aber mitfühlende Schicksalsgenossinnen sind.

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