Farbige Blätter – nacktes Holz
Niklaus Kuster 18.10.2024

Die Natur ist ein wunderbarer Weg, um Spiritualität zu erleben. Papst Franziskus ermutigt uns in seiner Enzyklika ‹Laudato si’›, «die Offenheit für das Staunen und das Wunder» zu wahren.
Glücklich, wer in dieser Erntezeit nicht nur pflückt und einsammelt, sondern auch betrachtet! Bäume etwa bieten weit mehr als essbare Früchte, Lebensraum für viele Tiere, guten Schatten, frische Luft, Schutz vor Windböen und verwendbares Holz. Wer Pflanzen betrachtet, kann auch spirituellen Gewinn «ernten».
Nutzpflanze?
Der Begriff «Nutzpflanze» ist verräterisch und entstammt einer oberflächlichen Kultur. Rund 400 000 Pflanzenarten kennt die Botanik auf Erden. Von dieser Fülle nutzt der Mensch 5 % aktiv. Einen Viertel davon, gegen 5000 Arten, kultivieren wir in Gärten, Feldern, Forst und Plantagen. Vor 9000 Jahren begannen Sammler im «Fruchtbaren Halbmond», der sich von Mesopotamien über Syropalästina bis ins Niltal spannt, Wildgetreide zu veredeln, während in China erstmals Reis und in Mexiko Mais angebaut wurde.
Das Sesshaftwerden führte zu einer Revolution: Künftig konnten bis zu 6000 Menschen auf einem Gebiet leben, das zuvor einen Jäger und Sammler ernährt hatte. Heute decken 150 Pflanzenarten rund 90 % des Nahrungsmittelbedarfs der Menschheit. Als «Nutzpflanzen» gelten wilde und Kulturpflanzen, die Nahrungs-, Genuss- oder Heilmittel, Holz, Farbstoffe oder Fasern liefern. «Zierpflanzen» gehören nicht zu ihnen. Wozu soll Schönheit denn nützen? Und nicht nur äussere Schönheit kann eine Zierde sein, sondern auch innere Schönheit hat ihren Wert. Das gilt für Pflanzen wie für Menschen!
«Mystik in einem Blütenblatt»
Papst Franziskus ruft in seiner Enzyklika «Laudato si’» dazu auf, die kontemplative Wachheit zurückzugewinnen. Wer sich der Natur in der Haltung des Herrschers und der Konsumentin nähert, droht sie auszubeuten. Wer «die Offenheit für das Staunen und das Wunder» wahrt, entdeckt die Schönheit des Geschaffenen und tritt in Beziehung (LS 11). Schon der biblische Mensch sah «die Natur als ein prächtiges Buch, in dem Gott zu uns spricht und in dem er seine Schönheit und Güte aufscheinen lässt» (LS 12). Wer die Welt staunend betrachtet, findet «Mystik in einem Blütenblatt, in einem Weg, im morgendlichen Tau, im Gesicht des Armen». Kontemplativ Wache «entdecken das Handeln Gottes in der menschlichen Seele» und werden fähig, «ihm in allen Dingen zu begegnen» (LS 233).
Erfahrungsschatz in den Jahresringen
Als ich vom Kloster Olten nach Rapperswil ins «Kloster zum Mitleben» wechselte, das kleinere Zimmer hat, musste ich mich von vielen Dingen trennen, die ich in zwei Jahrzehnten angesammelt hatte. Herbstbäume verhalfen mir mit pflanzlicher Weisheit zur notwendigen Freiheit: Sie geben Früchte weiter, legen ihr Blätterwerk ab und speichern zugleich Wertvolles in einem neuen Jahrring. Das Ablegen dessen, was ausgedient hat, schafft nicht nur Leere für die Last des Winters, sondern auch Freiraum für einen neuen Frühling – und für neue Blätter, Blüten und Früchte! Was der Baum im neuen Jahrring sammelt, macht ihn reifer und stärker. In den Jahrringen liegen ein Erfahrungsschatz, Kraft und innere Schönheit! Was lege ich heute ab, und was lagere ich an Wertvollem und Durchlebtem in meinen Jahrring 2024 ein?
Niklaus Kuster
Der Kapuziner Niklaus Kuster ist 2024 Gastautor. Er schreibt aus der Sicht eines Ordensmannes und Theologen für das Pfarreiblatt Sursee.
(Foto: by nuraghies on freepik)
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