«Es braucht die Neugier, vermeintlich bekannte Themen neu anzugehen»
Interview: Rebekka Felder 28.06.2024

Neugier und Offenheit sind im Glauben zentral – davon ist Prof. Dr. Nicola Ottiger überzeugt. Aspekte, die auch die Kirche herausfordern, so die Theologin.
Kriege, Krankheit, Verluste, aber auch Gefühle der Dankbarkeit und Ehrfurcht gelten gemeinhin als «Einfallstore» für Glaubensfragen. Ganz allgemein gefragt: Weshalb beginnen Menschen, über Gott nachzudenken?
Es sind sicher die Nahtstellen des Lebens, bei denen sich Menschen die grossen Fragen des Lebens stellen. Ob Erfahrungen von schwerem Leid oder auch von Glück: Wenn Menschen erfahren, dass sie das Leben letztlich nicht selbst in der Hand haben, dass es Dinge gibt, die sie übersteigen, kann das existenzielle Fragen auslösen. Oftmals funktioniert man im Alltag und hat zu wenig die Zeit, sich mit tieferen Lebensthemen zu beschäftigen. Aber als Wesen, das über sich nachdenken kann, kann der Mensch Fragen nach dem Woher und Wohin nicht ausweichen.
«Man kann sein Leben nicht nicht deuten.»
Dazu kommt, dass – obwohl wir in einer säkularisierten und gleichzeitig multireligiösen Gesellschaft leben – in unserem Kulturkreis christliches Gedankengut und Praktiken noch anzutreffen ist, aber als verstaubt gilt. Hier braucht es Neugier, vermeintlich bekannte Themen neu anzugehen, damit Menschen Freude daran entwickeln, sich selbst, Gott und das Leben neu zu entdecken. Oder, aus christlicher Perspektive formuliert: sich auf die Nachfolgegemeinschaft Jesu Christi einzulassen, Erfahrungen zu machen und sich vom Heiligen anrühren zu lassen.
Gläubige und nicht gläubige Menschen unterscheiden sich in der Deutung ihrer individuellen Lebenserfahrung. Damit setzt Glaube die Bereitschaft voraus, das eigene Erleben deuten zu wollen. Warum haben Menschen das Bedürfnis, Lebensereignisse zu hinterfragen?
Niemand kann sich diesen grossen Fragen, die einem das Leben stellt, auf Dauer entziehen. Man kann sein Leben nicht nicht deuten. Menschen sind geistige bzw. vernunftbegabte Wesen und fragen sich nach dem Sinn ihres Lebens. Deshalb philosophieren Menschen. Existenzialphilosopisch spricht man von einem «Geworfensein ins Leben», mit dem jeder Mensch umgehen lernen muss. Aus theologischer Sicht liegt der Grund des Fragens darin, dass Gott den Menschen so geschaffen hat, dass er nach dem Ursprung fragen kann. Er spürt vielleicht ein unbestimmtes Verlangen und Sehnsucht nach Heimat und Angenommensein, versucht mit existenziellen Ängsten klarzukommen: Die Antwort darauf, wer ich bin, kann letztlich nur Gott, der Ursprung meines Lebens, geben.
Unser Leben ist in einem kurzem Zeitfenster eingebettet. Die Frage des ‹Woher› und ‹Wohin› – sprich, was meiner Existenz vorausging und was folgen wird – scheint für viele Menschen wenig relevant. Gleichzeitig sind diese Aspekte aber im christlichen Glauben zentral. Welche Anknüpfungspunkte an Glaubensfragen, die unser Dasein ernsthaft und tief berühren, lassen sich heute inmitten dieser Fokussierung auf die Gegenwart finden?
Auch hier möchte ich wieder zu Neugier ermutigen: Sie ist eine lebendige, lebensbejahende Haltung und impliziert Offenheit: Ich kann etwas für mein Leben entdecken! Entsprechend kann diese Entdeckerlust, das Bedürfnis nach Tiefer-gehen-wollen, durchaus positiv konnotiert sein. Es steckt mehr dahinter als die Frage, was man alles erfüllen muss, um mit den eigenen Problemen in dieser Gesellschaft, die heute so anforderungsreich ist, umgehen zu können. Leider beobachte ich gerade in diesem Bereich eine starke Vermarktung, wenn auch pseudo-religiöse Anbieter mit ihren Angeboten aus dem Bedürfnis nach Sinnsuche Kapital schlagen.
«Als Wesen, das über sich nachdenken kann, kann der Mensch Fragen nach dem Woher und Wohin nicht ausweichen.»
Für mich stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, wie wir als Kirche Interesse und Begeisterung für Glaubensfragen wecken können; – Fragen, die anspruchsvoll sein mögen, weil sie mich auf mich selber zurück und gleichzeitig von mir wegführen: Ich bin nicht der Nabel der Welt. Was gibt es im Christentum Positives zu entdecken? Und wie gelingt es uns, dies in einer Form vermitteln, dass es nicht als immer gleiche «Phrase» wahrgenommen wird? Oftmals sprechen wir in einer Redensart, die belastet ist: «Gott ist Liebe» ist keineswegs falsch, aber man soll diese Aussagen wieder mit Sinn und Bedeutung füllen, auffrischen und erfahrbar machen.
Damit ist auch die Verantwortung angesprochen, die Kirchen mit ihrer christlichen Verkündigung haben. Menschen dabei zu begleiten, bestimmte Erfahrungen als Anruf oder Berührung Gottes zu erkennen und dabei nicht sich selbst oder Irdisches mit Gott zu verwechseln. Das nennt man «Mystagogie». Unser Glaubenslernen und das Feiern des Glaubens in Gottesdiensten sollte im besten Sinne mystagogische Qualität haben.
«Die Kirche muss sich der Frage stellen: Ist sie selbst neugierig und bereit, mit den Menschen neue Wege zu gehen?»
Bei aller Verantwortung der Kirchen möchte ich aber einen Gedanken teilen, den ich meine bei Dorothee Sölle gelesen zu haben. Der christliche Glaube ist der Glaube der «zweimal Geborenen»: Ein angelernter Glaube reicht meist nicht aus, es sind ganz persönliche Erfahrungen, die – wie durch einen «Tod» hindurch, den Glauben als tragfähig und wahr erweisen. Plötzlich machen die Sätze des Evangeliums, die Symbole und Rituale des Glaubens zutiefst Sinn.
Gewisse Religionssoziologen behaupten, dass der Bedeutungsrückgang der Kirchen weniger auf Unzufriedenheit denn auf eine Gleichgültigkeit gegenüber der Religion zurückzuführen sei. Viele Menschen würden sich mehr für profane statt religiöse Themen interessieren. Wenn dem tatsächlich so ist – wie kann es der Kirche Ihrer Meinung nach gelingen, Neugier zu wecken und den Glauben wieder mehr ins Spiel zu bringen?
Es ist eine Tatsache, dass viele Menschen zufrieden sind mit dem, was ihr Leben und Alltag ausfüllt, ohne sich explizit religiösen Fragen stellen zu müssen – bis sie irgendwann vom Leben dazu herausgefordert werden. Aus religionssoziologischen Studien wissen wir, dass unsere Gesellschaft nicht einfach areligiös ist. Viele erklären, dass ihnen Spiritualität wichtig ist, nur nicht mehr in der klassischen Form. In ihrem Bedürfnis nach Spiritualität – und auch nach Gemeinschaft – wählen die Menschen aus verschiedenen Angeboten ihren eigenen, persönlich stimmigen Zuschnitt oder ihre individuelle Form. Dieser liegt oft nicht mehr bei der christlichen Kirche als gemeinschaftliche Institution.
Was die Gleichgültigkeit betrifft, so ist aber auch unser Alltag in den Blick zu nehmen: Viele sind einem hohen Leistungsdruck und Stress ausgesetzt. Der Kampf um das Prestige im Kontext einer Gesellschaft, die das eigene Präsentieren und Erfolg haben in den sozialen Medien zelebriert, unterscheidet sich aber grundsätzlich von einer lebendigen Neugier und Bereitschaft sich einzulassen auf neue Erfahrungen. Eine Bereitschaft, die wichtig wäre, um Glauben und Kirche neu zu entdecken. Gleichzeitig muss sich die Kirche der Frage stellen: Ist sie selbst neugierig und bereit, mit den Menschen neue Wege zu gehen? Sie darf sich von ihrem grossen spirituellen Schatz und einer unvergleichlichen, lebensspendenden Botschaft selbst herausfordern lassen.
Wer heutzutage etwas wissen möchte, findet auf viele seiner Fragen eine wissenschaftliche Erklärung. Mindert die Fülle an empirischen Antwortversuchen das Bedürfnis der Menschen, religiöse Fragen aufzuwerfen und diesen nachzugehen?
Keineswegs. Wir brauchen die Wissenschaft und sind auch auf sie angewiesen. Man denke da z. B. nur schon an die medizinische Versorgung und andere Errungenschaften. Aber all dies betrifft «innerweltliche» Belange. Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts, wie die Philosophie fragt? Oder, religiös gesprochen: Wem ist die Schöpfung zu verdanken? Was ist der Sinn unseres Daseins? Das sind vernünftige Fragen. Auf all diese Fragen haben die empirischen Naturwissenissenschaften keine Antwort: Sie gehen auf Fragen des «Wie», nicht des »Warum» ein. Glaube und Vernunft schliessen sich nicht aus – das ist eine Überzeugung schon seit biblischer Zeit.
Wir alle können nicht auf Beweise für die Gottesexistenz zurückgreifen, sondern müssen uns mit Hinweisen zufriedengeben. Hilft das Akzeptieren dieser Tatsache, auch mit «Leerstellen» im eigenen Leben besser umzugehen?
Ja, man kann Gott nicht beweisen, aber ebenso wenig belegen, dass es Gott nicht gibt. Es ist tatsächlich so, dass wir – als vernunftbegabte Wesen – herausgefordert sind, unserem Leben gerecht zu werden: Indem wir uns darauf einlassen, indem wir lernen und Erfahrungen machen, bereit sind, sie kritisch zu reflektieren und uns auch wieder für neue Erfahrungen öffnen. Wer nach Gott und damit nach der Wahrheit fragt, kann sich nicht nur mit eigenen Meinungen und Interessenslagen zufriedengeben. Der Mensch braucht andere Menschen als Gegenüber, braucht den interdiskursiven Austausch und auch die Weisheit der Religion. Verdächtig ist alles, was einfach behauptet wird, ohne Begründung, oder mit Verweis auf Geheimwissen, wie in Verschwörungstheorien.
Zur Person: Prof. Dr. Nicola Ottiger (Jg. 1970) arbeitet als Dozentin für Dogmatik, Fundamentaltheologie und Liturgiewissenschaft am Religionspädagogischen Institut RPI der Theologischen Fakultät der Universität Luzern. Seit 2021 ist sie ausserdem Professorin für Ökumenische Theologie und Leiterin des Ökumenischen Instituts Luzern.
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