Ein möglicher Anfang
Mariann Bühler 01.01.2025

Ein Jahr voller Gedanken, Reflexionen und ferner Begleitung – die Gastautorin Mariann Bühler nimmt uns mit auf eine Reise, die von inneren Prozessen und äusseren Ereignissen erzählt.
Diesen ersten Text schreibe ich aus dem alten Jahr in ein neues Jahr hinein. Und diesen Satz schreibe ich an einem frühen, dunklen Dezembermorgen, in einem Zug, der gerade an Sursee vorbeifährt.
Ein Jahr lang habe ich alle zwei Wochen Gelegenheit, für Sie einen Gedanken in Worte zu fassen. Auf die Anfrage, diese Kolumne zu schreiben, habe ich freudig zugesagt. Was für ein Geschenk, alle zwei Wochen laut – oder so laut, wie ein Text halt sein kann – über ein Thema nachzudenken. Aber wie fange ich an? Was könnte Sie, die Leser*innen dieses Textes, im neuen Jahr interessieren, was habe ich zu erzählen? Draussen wird es langsam hell, gerade ist der Zug über die Emme gefahren, bald kommt der Tunnel und dann der Bahnhof Luzern, wo der Zug die Richtung wechselt.
Soll ich über die Welt da draussen schreiben, über das, was in Syrien gerade passiert? Soll ich über die erschreckend empathielosen Forderungen von manchen Politikern schreiben, die geflüchtete Syrer*innen umgehend in ein zerstörtes Land zurückschicken wollen? In ein Land, in dem sich zwar gerade etwas verändert, vielleicht zum Guten, wo aber nicht absehbar ist, wie sich die Machtrochade auswirken wird, in ein Land, in dem nach mehr als zehn Jahren Krieg kein Leben in Sicherheit möglich ist? Soll ich über alles schreiben, was mir gerade Sorgen macht – politische Entwicklungen Richtung rechts, mit Weltbildern, wo sich jeder selbst der Nächste ist? Der generische Maskulin ist Absicht, in diesen Weltbildern ist alles, was nicht männlich, weiss, heterosexuell ist, gefährdet. Soll ich schreiben, dass ich in einer Welt leben will, in der solidarisch gehandelt wird? In der man sich gegenseitig und der gemeinsamen Welt Sorge trägt? Dass ich der Meinung bin, dass das Anstrengungen und Verzicht wert ist?
Oder soll ich über die Schulklasse im Kanton Uri schreiben, zu der ich an diesem Morgen unterwegs bin? Soll ich erzählen, wie diese jungen Menschen in manchmal krummen Sätzen und aus zahlreichen Muttersprachen heraus ihre Hoffnungen und Wünsche für ihre Zukunft, die Schwierigkeiten aber auch das Glück ihrer Gegenwart durchscheinen lassen? Wie sich in der Geschichte, die wir gemeinsam schreiben – es ist ein Krimi, in dem es um Drogen geht – eine Bande von sehr unterschiedlichen Jugendlichen bildet, die gemeinsam und ihren speziellen Fähigkeiten entsprechend die Bösen bekämpfen? Die Arbeit mit diesen Jugendlichen gibt mir Zuversicht, dass es möglich ist, sich aller Unterschiede zum Trotz zusammenzuraufen und sich für das Wohl der anderen einzusetzen und an der Zukunft zu arbeiten.
In diesem ersten Text kann ich mich nicht festlegen. Wahrscheinlich wird es auch im neuen Jahr so sein, dass mich und uns verschiedenes beschäftigt. Wir haben ein ganzes Jahr miteinander. Ich bin gespannt, ob ich von Ihnen, meinem unsichtbaren Gegenüber, etwas hören werde, ob es Reaktionen geben wird auf das, was ich hier schreibe. Ob Sie mir ihre Gedanken und Erlebnisse schreiben und so sichtbar werden, ob ein Austausch entsteht, der uns unserer selbst versichert und stärkt.
Inzwischen sind draussen die Farben sichtbar, der Zug fährt weiter, zwischen wintergrünen Wiesen, blattlosen Bäumen und erleuchteten Fenstern Richtung Arth-Goldau. Und weiter in Richtung neues Jahr.
Mariann Bühler ist Autorin und Literaturvermittlerin. Sie schreibt 2025 als Gastautorin für das Pfarreiblatt Sursee.
Bild: Usamah Khan / Unsplash
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