Der du warst – die du wirst!
Niklaus Kuster 05.08.2024
Das Unterwegssein macht uns aufmerksam auf das, wozu wir Menschen immer wieder aufgefordert sind: Dinge hinter uns zu lassen und Neues anzugehen.
Sind Sie in diesen Sommerwochen gereist oder haben Sie Wanderungen gemacht? Das Unterwegssein lässt uns eine Wahrheit leibhaft erfahren, die für unser Leben insgesamt gilt – selbst dann, wenn es ohne viel Bewegung sesshaft bleibt oder uns durch Alter und Krankheit immobil sieht. Ob äusserlich sichtbar oder innerlich erfahrbar: Es gibt immer ein «hinter dir» und ein «vor dir». Auf dem französischen Jakobsweg traf ich auf eine Pilgernotiz, die mich länger begleitet hat. Sie lautet übersetzt: Vor dir – das Unbekannte, herausfordernd und verheissungsvoll zugleich! Hinter dir – vertraute Menschen, deine Gewohnheiten und Sicherheiten, und der, der du warst!
In meinem Kloster am Jakobsweg kommen immer wieder Pilgernde aus der nahen Herberge zu uns ins Nachtgebet. Für sie wie auch für unsere mitlebenden Gäste habe ich diese zwei Sätze zu einem kurzen Impuls entfaltet. Viele nehmen das Blatt gerne mit, weil es auch in ihr alltägliches Leben spricht:
Hinter Dir der Weg hierher,
Bewegung und Bewegendes,
Begegnungen und Erlebtes,
Beschwerliches und Erfüllendes!
Vor dir ruhige Stunden,
Innehalten und Einkehr,
und das, was morgen auf dich wartet:
neues Leben, weitere Schritte und neue Erfahrungen.
Hinter dir –
mehr als ein Stück Weg:
vertraute Menschen,
reiche Erfahrungen und getroffene Entscheidungen,
deine Gewohnheiten und Sicherheiten –
hinter dir die oder der, der du warst!
Vor dir –
mehr als der Weg von morgen:
Neuland in deinem Leben,
Ersehntes und das Unbekannte,
herausfordernd und verheissungsvoll
zugleich –
vor dir der oder die, die du wirst!
Ob wir uns bewegen oder nicht, das Leben bleibt nicht stehen. Menschen kommen in unser Leben und viele bleiben irgendwann wieder zurück oder gehen ihren Weg anderswohin. Aufgaben fordern und Tätigkeiten erfüllen uns, bis sie uns wieder abgenommen werden oder wir sie lassen. Lebensorte bleiben ebenso zurück wie Lebensphasen. Vertrautes fällt weg und Gewohnheiten verändern sich, weil wir unser Miteinander und unser Alltag sich ändern. Doch schafft das Zurückbleiben und Wegfallen nicht einfach Leere, sondern auch Freiraum! Vor mir: Neues in jedem Alter! Vor mir: die Chance, dem Raum zu geben, was ich mir ersehne und was bisher zu kurz kam! Und vor mir: neue Herausforderungen!
Ein altrömischer Vers sagte: «Témpora mútantúr, nos ét mutámur in íllis». «Die Zeiten verändern sich und auch wir wandeln uns in ihnen» – mit vielem, in dem wir uns treu bleiben und zugleich reifend und innerlich wachsend. Wenn das Fest Mariä Himmelfahrt die Gottesmutter feiert, die «mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wird», sagt es allen Glaubenden dasselbe zu, wenn wir das Ziel des irdischen Pilgerwegs erreichen. Wir bleiben uns selbst und werden zugleich neu: Hinter dir, der du warst – und vor dir, die du wirst, und mitten im Wandel und auch in der Vollendung: ganz Du!
Niklaus Kuster
Der Kapuziner Niklaus Kuster ist 2024 Gastautor. Er schreibt aus der Sicht eines Ordensmannes und Theologen für das Pfarreiblatt Sursee.
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