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Das Wunder und die eigene Verantwortung

tm 22.03.2024

Das Leben hält so manche leidvolle Erfahrung bereit, wovon etliche die Gesundheit betreffen. Das kennt auch die Spitalseelsorgerin Pia Brüniger-von Moos.


Niemand ist gerne krank. Es ist unangenehm, schränkt ein und kann mit Schmerzen und Leid verbunden sein. Folgenschwere Krankheiten lösen Fragen und Unsicherheit, vielleicht Angst oder Ohnmacht aus. In solchen Situationen können wir auf modernste medizinische Diagnostik und Therapiemöglichkeiten zählen. Generationen vor uns gingen mit ihren Ängsten und Wünschen häufig in die Kirche oder unternahmen eine Wallfahrt. «Rosenkranz beten und nach Einsiedeln pilgern. Es gab keine andere Alternative für meine Grossmutter mit Jahrgang 1885, als ihre kleine Tochter schwer erkrankte», erzählt Pia Brüniger-von Moos. Auch heute, in säkularen Zeiten, werden solche Rituale quasi komplementär zur modernen Medizin geschätzt und praktiziert. «Nicht nur ältere Patient*innen nehmen aus dem Raum der Stille im Spital ein Weihwasser-Fläschli mit auf ihr Zimmer. Daneben stelle ich fest, dass Patient*innen Rituale wiederentdecken und das ganz unverkrampft. Da ist zum Beispiel die Klagemauer im Raum der Stille. Sie wird von Menschen unabhängig ihrer Religion oder Weltanschauung genutzt: von Patient*innen vor einer Operation, von Mitarbeitenden, die mit dem Tod eines Patienten hadern und, und, und. Manchmal weiss man nicht, wohin mit der Klage, doch es gibt noch eine alte Form, die wir zur Verfügung stellen. Heute ist es vielleicht nicht mehr jüdisch oder christlich gedeutet, doch es ist ein Ort, an dem die Sprachlosigkeit einen Platz hat», sagt Pia Brüniger-von Moos.


Eigenständigkeit ist gefragt

Auch heute noch steht die Frage im Raum: Tut es uns Menschen gut, uns zum Beispiel der Religion oder der Medizin zu überlassen und damit auch Verantwortung für uns selbst abzugeben? «Heute scheint es mitunter so, dass das Wunder nicht mehr von der Religion, sondern von der Medizin erwartet wird. Doch die Medizin hat Grenzen. Leid und Krankheit gehören zum Leben – wie die Endlichkeit. Es gibt einen falschen Glauben an die Medizin, wie es einen irreführenden Glauben an Gott gibt», ist Pia Brüniger-von Moos überzeugt. Sich zum Beispiel von Zeit zu Zeit bewusst mit Fragen aus einer Patientenverfügung zu beschäftigen und auch in der Familie oder im Freundeskreis darüber auszutauschen, ist eine Möglichkeit, Verantwortung nicht einfach abzugeben. «Ein*e Patient*in bleibt immer auch autonom, darf mitbestimmen, kann Nein sagen zu einer Untersuchung oder Therapie», bekräftigt Pia Brüniger-von Moos.

Früher wie heute gibt es Menschen, die einen gesunden Umgang mit dem Leiden und Krankheit und alle den Infragestellungen des menschlichen Lebens haben. Pia Brüniger-von Moos erzählt vom Gespräch mit einer jungen Mutter, unheilbar erkrankt, die jenseits aller Verklärung sagte: «Es ist jetzt meine Aufgabe, das unabänderliche Schicksal anzunehmen. Das möchte ich meinen Kindern mitgeben – in Würde gemeinsam diesen Weg zu gehen.» Dabei ist sich Pia Brüniger-von Moos bewusst, dass es ein langer Weg zu einer solchen Haltung ist und meint: «So weit bin ich noch nicht.»

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