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«Das Mitfeiern ist eine Erfahrung, die mit Erleichterung und Freiheit zu tun hat»

rf 07.02.2024

Anna Hemme-Unger, Mitbegründerin von «Galaktika», über die Unterstützung der Kirchen bei der Integration von ukrainischen Geflüchteten.

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine jährt sich diesen Februar zum zweiten Mal. Verschiedene Projekte der Schweizer Landeskirchen helfen ukrainischen Geflüchteten, die noch immer nicht zurückkehren können, sich zu integrieren. Eines davon ist «Galaktika»: Der von reformierten Theologiestudierenden gegründete Verein hilft ukrainischen Geflüchteten, Anschluss in der Schweiz zu finden. Drei Fragen an Anna Hemme-Unger, Mitbegründerin des Integrationsprojekts.

Ihr bietet Gottesdienste mit reformierten und orthodoxen Komponenten an. Wie kommt diese Mischform bei den Gottesdienstbesuchern an?

Zu Beginn muss man festhalten, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer konfessionell sehr verschieden sind: Ein Grossteil ist zwar orthodox, aber es gibt auch solche, die einer Freikirche wie den Baptisten oder der Pfingstgemeinde angehören. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen diese Kirchen in die Ukraine, um zu missionieren.

Die Mischform unserer Gottesdienste ist deswegen nicht eine Mischform im eigentlichen Sinne, aber wir verwenden sowohl orthodoxe als auch reformierte Elemente. So sind die Ikonen (Heiligenbilder der Ostkirche) bei uns Bestandteil der Feiern. Unser Gottesdienstraum ist ansonsten ja sehr schlicht. Auch Kerzen, die bei den Orthodoxen fest zur Tradition gehören, zünden wir an.

In den letzten Monaten habe ich einige Rückmeldungen von Gottesdienstbesuchenden erhalten: Vieles, was bei uns üblich ist, sind sie sich nicht gewohnt. In den ersten Gottesdiensten kamen die Leute zum Beispiel zu spät, weil sie dachten, sie können beliebig kommen und gehen – wie das bei ihnen tatsächlich auch der Fall ist. Auch die Auslegung biblischer Texte und Interpretation kennen sie in dieser Form nicht. Sie finden es spannend, unsere Art des Bibellesens kennenzulernen und mit ihrer zu vergleichen. Eine andere Verschiedenheit ist das Mitbeten: Das Vater Unser bzw. Unser Vater wird bei ihnen nicht mitgebetet, weshalb viele von ihnen es nicht auswendig können. Viele waren anfangs über all diese Unterschiede irritiert; andere überrascht und erleichtert. Erleichtert in dem Sinne, in die Kirche kommen zu können und nicht gleich drei Stunden dableiben und die festen Abläufe mitgehen zu müssen.

Was bedeuten die von euch angebotenen Feiern den Ukrainerinnen und Ukrainern ganz konkret?

Für die Menschen sind unsere Gottesdienste mit Integration verbunden: Einerseits entdecken sie, dass Kirche auch anders, nämlich partizipativ, funktionieren kann. Das freie Predigen oder auch das aktive Mitwirken in der Feier kennen sie in ihrer Tradition nicht. Zudem gibt ihnen ihre Mithilfe bei der Gottesdienstvorbereitung das Gefühl, dass sie mitgestalten und sich beteiligen dürfen – eine Erfahrung, die sie sehr schätzen. Die orthodoxen Ukrainerinnen und Ukrainer sehen so, dass die Kirche auch viel Gestaltungsfreiheit hat; Angehörige von Freikirchen hingegen lernen den wissenschaftlichen Zugang zu Bibeltexten kennen. Das ist ein spannender Mix.

Ausserdem haben wir einen Chor aus der Ukraine, der traditionelle Lieder in der Landessprache singt, wobei wir gleichzeitig auch immer wieder versuchen, Liedgut aus unserem Kulturkreis einzubinden. Nach den Gottesdiensten sitzen wir jeweils zusammen und tauschen uns aus. Dieser Raum, in dem Sorgen und Ängste ihren Platz bekommen, ist wichtig. Sicher ist das Mitfeiern bei uns ist für manche zunächst ein Kulturschock, aber auch eine Erfahrung, die viel mit Freiheit, Erleichterung und Entfaltung zu tun hat. Und das sind Aspekte, die auch in die Integration einfliessen.

Neben Gottesdiensten bietet ihr auch Ausflüge oder Kochtreffs an. Was geben diese Anlässe älteren und jüngeren Ukrainern?

Zunächst haben wir an Anlässen die Bedürfnisse, vor allem jene der jüngeren Generation, abgefragt und auf dieser Grundlage ein Programm zusammengestellt. So werden wir in diesem Jahr zum Beispiel Gäste einladen oder die Uni besuchen; es kamen aber auch Vorschläge wie wandern gehen oder ein Jugendtheater organisieren. Die Jugendlichen sind begeistert und motiviert, man spürt einen grossen Willen. Unsere Angebote wollen wir weiterführen und ausbauen. Bei gewissen Projekten ziehen wir zudem die Familienangehörigen mit ein. Auch Konfirmandinnen und Konfirmanden helfen teileweise mit. Sie kennen die Kultur der Schweiz und können diese den Gleichaltrigen vermitteln. Wir wollen keine «Bubbles», sondern dass die jungen Ukrainerinnen und Ukrainer auch mit Schweizer Jugendlichen in Kontakt kommen. Das hilft ihnen auch beim Lernen der Sprache.

Dazu kommt, dass wir einen Raum für (Seelsorge-)Gespräche einrichten wollen. Vor allem nach Jugendevents kommen viele Jugendliche zu uns und erzählen von ihren Problemen in der Schule, mit den Lehrern oder den Eltern. So entsteht eine spannende Beziehungsarbeit. Ich persönlich war auch einige Monate in den Schulen unterwegs und habe – in Absprache natürlich – zwischen Schülern und Lehrern vermittelt.

Ich stelle fest, dass vor allem die Sprache und die Prozesse im Schulwesen immer wieder zu Spannungen führen; – zwischen Lehrern und Schülern, aber auch ihren Eltern. Viele von den Jugendlichen verspüren einen grossen Erwartungsdruck, was ihre Leistung angeht. Auch Besuche bei Sozialarbeitern gehören zur Routine. Wir versuchen, Drehscheibe zwischen Staat und Geflüchtete zu sein. Wenn es weniger Missverständnisse gibt, gibt es mehr Miteinander – und das führt zu Lösungen.

Anna Hemme-Unger ist Juristin und angehende Pfarrerin. Zusammen mit anderen Freiwilligen hat sie das Projekt «Galaktika» zur Integration ukrainischer Flüchtlinge ins Leben gerufen. Der Verein wurde mit Innovationskredit der Reformierten Kirche des Kantons Zürich gefördert.


Sie möchten mehr über die Hilfe der Landeskirchen für ukrainische Flüchltlinge erfahren? Dann schauen Sie hier.

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