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Blühen und duften

Niklaus Kuster 24.04.2024

Damit Vitalität und Leben möglich ist, braucht es auch Momente der Ruhe und Kargheit. Beide Pole gehören zum Kreislauf des Lebens dazu.


«Sie verblüht und er verduftet», so lautete in meiner Jugend die Antwort auf die Frage, was eine «Blumenehe» sei. Manche schmunzelten über den bildhaften Vergleich, für andere war und ist er bitterer Ernst. Unser Leben, Beziehungen, Gemeinschaften oder Vereine und Kulturen kennen ihre Blütezeit: einmalig oder wiederholt, wie es in der Natur auch geschieht.


Frühling als zweifache Einladung

Das Spriessen, Blühen und Duften in diesen Wochen, in denen der Frühling erwacht und seinen ganzen Zauber zeigt, ist eine zweifache Einladung: Die erste liegt darin, bei Spaziergängen, Wanderungen oder im Garten die Vitalität zu geniessen, die sich in der Natur wieder so erfrischend und verspielt zeigt. Lebenslust und Schönheit in der Pflanzen- und Tierwelt ermuntern uns im tieferen Sinn auch, all das Blühende und Duftende in unserem eigenen Sein und Leben wahrzunehmen, uns dessen zu freuen und einander Sinne und Herz dafür zu öffnen. Klara von Assisi erinnerte, als sie selber betagt und nicht mehr mobil war, «die Schwestern, die ausserhalb des Klosters arbeiteten: Wenn sie schöne Bäume, Blüten und Blätter sähen, sollen sie Gott von Herzen preisen. Und genau so, wenn sie Menschen oder andere Geschöpfe sähen, dass sie immer für alle Dinge und in allen Dingen Gott loben!» (Zeugnis der Schwester Angeluccia).


Kargheit und Ruhe machen die neu sprudelnde Vitalität möglich.


Kargheit macht Vitalität erst möglich

Der Frühling mit all seiner Pracht wird nur möglich, weil ihm der Winter vorausgeht: Dessen Kargheit und Ruhe machen die neu sprudelnde Vitalität möglich. Und die prachtvoll blühenden Bäume des Frühlings lassen ihre Blüten fallen und bilden an deren Stelle Früchte. Sie gehen durch die Hitze und die Gewitter des Sommers dem Herbst entgehen: der Zeit der Ernte, die ihren eigenen Zauber und ihr eigenes Farbenspiel kennt. «Ewigen Frühling» – la primavera eterna – habe ich einzig in Medellín erlebt: einer Gegend in Kolumbien, in der das ganze Jahr immer wieder Pflanzen blühen. Auch in diesen zeigen sich aber die Zyklen von Wachstumsruhe, Blühen, Reifen und Ernte in ihrem Wechsel.


Jede Saison hat ihren Reichtum

Hildegard von Bingen hat in ihren Visionen von der Ganzheit der Schöpfung den Jahreslauf als Bild für die Lebensalter des Menschen gesehen. Das Frühjahr erinnert an die Kindheit, in der das junge Leben noch sorgsamen Schutz benötigt. Der volle Frühling steht für die Jugendzeit, der Sommer mit seiner Kraft und seinen Strapazen für das Erwachsenenalter, der Herbst für die Zeit der Reife und der Ernte im menschlichen Leben, während der Schnee des Winters sich mit den weissen Haaren der Hochbetagten verbindet. Jede Saison hat ihren Reichtum und ihre Herausforderungen. Glücklich, wer im Sommer nicht die verlorene Pracht des Frühlings beklagt, sondern die Früchte sieht, die aus den Blüten reifen! Dasselbe gilt für die Blütezeit einer menschlichen Beziehung, einer Familie oder einer Gemeinschaft, eines Vereins oder einer Initiative, einer Kultur wie auch der Kirche. Zurück zur «Blumenehe»: Meine Grossmutter pflegte zu sagen, dass Menschen, die in wechselnden Partnerschaften Frühling an Frühling reihen, nicht reifen!


Der Kapuziner Niklaus Kuster ist 2024 Gastautor. Er schreibt aus der Sicht eines Ordensmannes und Theologen für das Surseer Pfarreiblatt und die Website.

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